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396 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
zielle Gleichberechtigung der unterschiedlichen ErzÀhlebenen weiterentwi-
ckelt und radikalisiert. So imitiert die ErzÀhlstimme mit der Substitution des
Personalpronomens âichâ durch das unpersönliche âmanâ und des Substantivs
âMĂ€delâ durch neutralisierende Pronomina wie âetwasâ und âesâ die defizitĂ€re
Sprechweise des sozial deklassierten und psychisch abnormen Verbrechers,
dessen VerhÀltnis zum weiblichen Geschlecht bald grundlegend gestört er-
scheint.194 Auf diese Weise werden dem Romanpublikum zugleich die mit der
sozialen Marginalisierung und Isolation Moosbruggers einhergehende trau-
matische Erfahrung und ihre psychosozialen Konsequenzen nahegebracht.
Man könnte also verstehn, daà Moosbrugger schon nach dem ersten MÀdchenmord
sich damit verantwortete, daĂ er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag
und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei
der Arbeit ; dann hörte er sie tags und nachts miteinander sprechen und streiten.
Das war keine Geisteskrankheit, und Moosbrugger mochte es nicht leiden, wenn
man derart davon sprach ; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an
geistliche Reden auf oder legte es nach den RatschlÀgen des Simulierens an, die man
in den GefÀngnissen erhÀlt, aber das Material dazu war immer bereit ; bloà etwas
verblaĂt, wenn man nicht gerade darauf achtete. (MoE 69 f.)
Die Passage beginnt mit der konjunktivischen Formel âMan könnte also ver-
stehnâ, die den Potenzialis â und damit den âMöglichkeitssinnâ â indiziert.
Solcherart knĂŒpft der ErzĂ€hler an eine Vermutung an, die er bereits im 4.
Romankapitel mit Blick auf einen Menschen mit Möglichkeitssinn angestellt
hat : âEs ist etwa sehr leicht möglich, daĂ ihm ein Verbrechen, bei dem ein
anderer zu Schaden kommt, bloĂ als eine soziale Fehlleistung erscheint, an
der nicht der Verbrecher die Schuld trÀgt, sondern die Einrichtung der Ge-
sellschaft.â (MoE 17) Ebendieser âMöglichkeitssinnâ erlaubt einem unvor-
eingenommenen Beobachter, sich in die âvon Geisternâ bedrĂ€ngte Psyche
Moosbruggers zu versetzen. Um auch den Leserinnen und Lesern einen ge-
danklichen Nachvollzug von dessen Zwangsvorstellungen zu erleichtern, setzt
Musil in der Folge die Technik der âerlebten Redeâ ein, die hier eine wech-
selseitige Perspektivierung âobjektivierenderâ und âsubjektivierenderâ ErzĂ€hl-
verfahren bewirkt. Da es keine eindeutig ĂŒbergeordnete Sprecherinstanz gibt,
bleibt die Frage nach der âGeisteskrankheitâ des Delinquenten indes unbe-
antwortet. Die verwirrende Situation hinsichtlich der âtatsĂ€chlichenâ VerhĂ€lt-
194 Die âEntpersonalisierung der Frauenâ, die durch Moosbruggers Blick gleichsam âneutralisiertâ
werden, betont schon Deutsch : Der Philosoph als Dichter, S. 132.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208