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397âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
nisse bzw. des ErzÀhlerstandpunkts wird durch Moosbruggers Versuch einer
Anpassung an die herrschenden Diskurse weiter verunklart : In seiner Vertei-
digung orientiert er sich an den in der seinerzeitigen kakanischen Diskurs-
ordnung mit allen Weihen der LegitimitĂ€t versehenen âgeistliche[n] Redenâ
sowie an den âRatschlĂ€gen des Simulierensâ, die er von den sozial ebenfalls
deklassierten Mitgefangenen erhĂ€lt. Der ErzĂ€hler weist allerdings ausdrĂŒck-
lich darauf hin, dass die Basis fĂŒr Moosbruggers eigentĂŒmliche Wahrnehmun-
gen und Erlebnisse in dem von ihm selbst produzierten psychischen âMate-
rialâ zu finden sind, das ganz offenbar doch eine psychopathologisch relevante
Struktur aufweist. Das Verwirrspiel um den perspektivischen Standpunkt der
ErzÀhlung ist damit noch nicht beendet :
So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist fĂŒr einen Zimmer-
mann schwer Arbeit zu finden, und Moosbrugger lag oft wochenlang auf der StraĂe.
Nun ist man tageweit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen.
MuĂ bis spĂ€t in die Nacht weitermarschieren. FĂŒr eine Mahlzeit hat man kein Geld,
so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Kerzen leuchten und der Körper
allein geht. In der âStationâ will man nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der war-
men Suppe, teils wegen des Ungeziefers und teils wegen der krÀnkenden Schere-
rei ; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins
Heu. Ohne ihn zu bitten, natĂŒrlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch
nur beleidigen lassen. Am Morgen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen
GewalttĂ€tigkeit, Vagabondage und Bettelei, und schlieĂlich ergibt es einen immer
dicker werdenden Bund solcher Vorstrafen, den jeder neue Richter wichtigtuerisch
aufmacht, als ob Moosbrugger darin erklÀrt wÀre. (MoE 70)
Es bleibt unklar, wer hier spricht : Nach den einleitenden Worten des ErzÀh-
lers scheint es in den mit dem Personalpronomen âmanâ gebildeten SĂ€tzen zu-
nĂ€chst â wiederum der unpersönlichen Formulierung zum Trotz â, als handle
es sich um einen persönlichen Bericht des Delinquenten. Dieser Anschein
wird jedoch durch das Bild der âhinter den Augen leuchtenden zwei Kerzenâ
verunsichert, das von auĂen wahrgenommen erscheint. Vollends konterkariert
wird die interne Fokalisierung195 dann im abschlieĂenden Satz, der in seiner
195 Nach Genette : Die ErzĂ€hlung, S. 134, sagt der intern fokalisierende ErzĂ€hler ânicht mehr, als
die Figur weiĂâ â im Unterschied zum âunfokalisierendenâ ErzĂ€hler, der âmehr weiĂ als die Fi-
gur, oder genauer, [âŠ] mehr sagt, als eine der Figuren weiĂâ, sowie dem extern fokalisierenden
ErzĂ€hler, der weniger sagt, âals die Figur weiĂâ. Zur genaueren Unterscheidung unterschiedli-
cher Fokalisierungstypen vgl. ebd., S. 134â138.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208