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400 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
sind, und hÀlt sich auch sonst meist dort auf, wie sein spÀteres Mordopfer
zeigt, âeine Prostituierte niedersten Rangesâ (MoE 68). Er fungiert im sozialen
Raum des Romans somit als Vertreter âniedererâ Schichten. Sein Habitus ist
dementsprechend lĂ€ndlich-proletarisch, er verbreitet einen âderben, biederen,
trockenen Werktagsgeruchâ, der âvom Umgang mit Holz und einer Arbeitâ
rĂŒhrt, seine âHaltungâ ist âbreitbeinig und militĂ€rischâ (MoE 68). Symboli-
schen Niederschlag findet dies in seinem restringierten Ausdrucksvermögen :
Moosbrugger bemerkt, âdaĂ es der Besitz dieser Sprachen [Latein und Fran-
zösisch bzw. des Wissenschaftsjargons, N. C. W.] war, was den Herrschenden
das Recht gab, ĂŒber sein Schicksal zu âbefindenââ, ja âsein ganzes schwieriges
Wesen mit ein paar Fremdworten abtun zu könnenâ (MoE 72 ; vgl. MoE 532).
Bitter beklagt er deshalb seine defizitĂ€re âErziehung, die ihn nicht gelehrt
hatte, seine Erfahrungen so auszudrĂŒcken, wie es sein mĂŒĂteâ (MoE 241). Wie
aus den zitierten und zahlreichen weiteren Stellen hervorgeht, wird die sozio-
logische bzw. sozialpsychologische Fundierung der Moosbrugger-Handlung
wiederholt ausdrĂŒcklich angesprochen und erzĂ€hlerisch in Szene gesetzt. An-
gesichts der Ernsthaftigkeit dieser Passagen scheint es kaum angebracht, sie
bloĂ als âSimulacrumâ, als ironisches âZitatâ oder gar selbst als âSimulationâ
zu lesen, wie das im Rahmen âpostmodernerâ Deutungen nahegelegt wurde.200
Ein starkes Indiz fĂŒr die Angemessenheit des hier aufgebrachten interpre-
tatorischen Interesses an soziologischen Fragen ist der groĂe Stellenwert,
den Musils psychologischer GewÀhrsmann Ernst Kretschmer in seiner Cha-
rakterologie sozialen Faktoren zuschreibt.201 Die schon angesprochenen, fĂŒr
âdie Charakterentwicklung eines Menschenâ einschlĂ€gigen âpsychischen
AuĂenfaktorenâ sind demnach allerdings nicht allein in der âdauernde[n]
geistige[n] AtmosphĂ€re eines Milieusâ zu suchen, sondern auch in âbesonders
affektstarke[n] Einzelerlebnisse[n], die in manchen FÀllen die Persönlichkeitsent-
wicklung dauernd verbiegen könnenâ.202 Von âaffektstarken Einzelerlebnissenâ
200 So Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 319. Vgl. auch die heute etwas wohlfeil anmu-
tende âEinsichtâ von Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 259 : âWas Moosbrugger widerfĂ€hrt,
kann âpsychologischâ nicht erklĂ€rt werden, denn Moosbrugger ist kein Individuum, auch kein
fiktivesâ. Die topische GegenĂŒberstellung von sozialer und sprachlicher Thematik begegnet
ebenso â wenngleich in etwas unentschiedener Art und Weise â bei Hassler-RĂŒtti : Wirklich-
keit und Wahn, S. 232 : âSicher ist die Armut [âŠ] nicht nur materieller Art, böte sie doch als
solche kein zureichend glaubwĂŒrdiges Motiv fĂŒr diesen Notstand ; vielmehr meint sie etwas
Fundamentaleres [!], nÀmlich sich selbst als generelle Sprach- und Bewusstseinsarmut, die ge-
wissermassen Ursache und Wirkung solch defizitÀren Verhaltens abgibt und unmittelbar aus
einer apriorischen [?] sozialen Isoliertheit hervorgehtâ.
201 Vgl. dazu das Kap. I.3.1.
202 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 163.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208