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403âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
auf eine bestimmte âEigenschaftlichkeitâ festzulegen versuchen211, wĂ€hrend er
selber sich doch gar ânicht fest in seiner Hautâ wĂ€hnt, muss er sie verlassen
â und offenbart somit eine differente Selbstwahrnehmung bzw. ein BedĂŒrfnis
nach âEigenschaftslosigkeitâ und âNichtfestlegbarkeitâ, das etwa einem Diktum
aus Robert Walsers ProsastĂŒck Ein Kind entspricht : âNiemand ist berechtigt,
sich mir gegenĂŒber so zu benehmen, als kennte er mich. Wenn ich jemand
erkenne, sagâ ich ihm das nicht ins Gesicht ; ich wirke damit unzart und wecke
Verstimmtheit.â212 Bei Moosbrugger manifestiert sich diese Sehnsucht nach
Unbestimmtheit und Unerkanntheit des eigenen âIchâ auch in folgender Epi-
sode : âEr selbst hatte einmal in einem halbwachen Traum davon die Emp-
findung, daĂ er den Moosbrugger des Lebens wie einen schlechten Rock am
Leib getragen hÀtte, aus dem jetzt, wenn er ihn zuweilen etwas öffnete, in
wĂ€ldergroĂen Seidenwellen das wunderlichste Futter quoll.â (MoE 531) Mit
anderen Worten : âSein Zustand kam ihm unfest vor. Sein mĂ€chtiger Körper
hielt nicht ganz zu. Der Himmel schaute zuweilen in den SchĂ€del hinein.â
(MoE 533) Der zĂ€he Kampf fĂŒr oder wider eine charakterliche Festschreibung
Moosbruggers ist fĂŒr die Logik des Musilâschen Romans insgesamt signifikant,
was sich etwa im Umstand niederschlÀgt, dass die behauptete Konstanz der
individuellen âEigenschaftlichkeitâ entscheidende juristische Implikationen
zeitigt, denn : â[D]ie Voraussetzung jeder Verurteilung ist die Behauptung der
ĂŒber die Zeit hinweg konstanten IdentitĂ€t der Person, die das Verbrechen be-
gangen hat, und der Person, die die Strafe verbĂŒĂt.â213 Den nicht unerhebli-
chen rechtstheoretischen Aspekten der âEigenschaftslosigkeitsâ-Thematik, die
hier nur gestreift werden können, wÀre eine eigene Untersuchung zu wid-
men.214
Im gegenwÀrtigen Zusammenhang der Figurenanalyse interessieren jedoch
allererst die sozialpsychologischen bzw. psychopathologischen Implikationen
in ihrer Verbindung mit den narratologischen. So weist die bereits erwÀhnte
211 An dieser Stelle sei der charakteristische Umstand erwÀhnt, dass sich auch der Protagonist
Bloch in Peter Handkes ErzÀhlung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), der mehrere
Parallelen zu Moosbrugger aufweist und offensichtlich an einer schizoiden Persönlichkeitsstö-
rung leidet, am vertraulichen und respektlosen Umgang der Kinokassiererin Gerda â seinem
alsbaldigen Mordopfer â stöĂt, insbesondere daran, âdaĂ sie von Dingen, von denen er ihr
gerade erst erzĂ€hlt hatte, schon wie von ihren eigenen [!] Dingen redeteâ (Handke : Die Angst
des Tormanns beim Elfmeter, S. 20).
212 Walser : Ein Kind (III), S. 78.
213 Bourdieu : Die biographische Illusion, S. 80 f.
214 Vgl. dazu MĂŒller-Dietz : Moosbrugger, ein Mann mit Eigenschaften. In einer in Vorbereitung
befindlichen Studie zum Moosbrugger-Komplex aus der Perspektive Foucaults werde ich mich
genauer damit beschÀftigen.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208