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408 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ohne dass mit dem Abstraktwerden der Wirklichkeit diese gleich automatisch
selbst verabschiedet werden mĂŒsste, schlĂ€gt sich nieder in einer charakteristi-
schen Unsicherheit der ErzĂ€hlung. Sie wird von Musils Roman ausdrĂŒcklich
thematisiert, doch â anders als bei Benjamin â keineswegs sentimentalisch
beklagt.
In diesem Zusammenhang ist es durchaus bezeichnend, dass Musil seine
Notizen und Skizzen zu Moosbruggers Hinrichtung (Tb 2, 1063â1066) in kei-
nem ĂŒberlieferten Kapitelentwurf zum Romanende aufgreift und plastisch aus-
gestaltet, sondern diese Episode nur recht knapp in Ulrichs vorausblickender
Vision des âSchicksal[s]â andeutet, âdas Moosbrugger bevorstandâ :
Zwei MĂ€nner werden ihm die Schlinge um den Hals legen, ohne daĂ sie im gering-
sten böse GefĂŒhle gegen ihn hegen, sondern bloĂ weil sie dafĂŒr bezahlt sind. Viel-
leicht hundert Menschen werden zusehen, teils weil es ihr Dienst verlangt, teils weil
ein jeder gern einmal im Leben eine Hinrichtung gesehen haben will. Ein feierlicher
Herr in Zylinder, Frack und schwarzen Handschuhen zieht die Schlinge an, und im
gleichen Augenblick hÀngen sich seine zwei Gehilfen an die zwei Beine Moosbrug-
gers, damit das Genick bricht. Dann legt der Herr mit dem schwarzen Handschuh
die Hand auf Moosbruggers Herz und prĂŒft mit der sorgenden Miene eines Arztes,
ob es noch lebt ; denn wenn es noch lebt, wird das Ganze etwas ungeduldiger und
weniger feierlich noch einmal wiederholt. (MoE 119 f.)
Die erzÀhlerische Gestaltung einer potenziell spannenden bzw. ergreifenden
Handlung erscheint hier auf das Skelett eines nĂŒchtern berichteten Ablaufs
reduziert, dessen sachliche Darstellung die fehlende Unmittelbarkeit des Er-
lebens anzeigt. Ulrich stellt sich das alles nur vor und greift dabei auf sein
medial vermitteltes Weltwissen zurĂŒck. Dies Ă€ndert aber nichts an der tod-
bringenden Wirklichkeit des in der Zukunft der BasiserzÀhlung liegenden Ge-
schehens.
SchlieĂlich sollte im Zusammenhang der Moosbrugger-Figur noch einmal
die psychologische Differenziertheit hervorgehoben werden, die Musils essay-
istischer ErzĂ€hlstil dem âaltenâ Medium Literatur ermöglicht, indem er neben
der Handlungsebene auch eine reflexive Metaebene programmatisch etabliert
â im Unterschied zu âmodernerenâ Medien wie dem damals noch stummen
Kino, dem aus technischen GrĂŒnden keine kommentierende ErzĂ€hlinstanz
zur VerfĂŒgung stand.228 Musils filmtheoretischer GewĂ€hrsmann BĂ©la BalĂĄzs
hat sich dementsprechend zu den Aporien des Detektivfilms geĂ€uĂert, die zu
228 Vgl. Kap. I.2.3.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208