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412 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
wÀrtigen Kontext indes genauso wenig eine Rolle wie die Tendenz mancher
Literaturwissenschafter, die romaneske Figur entweder in ideologiekritischer
Absicht âzum negativen Modell des homo novusâ247 abzuqualifizieren oder sie
aber im neoliberalen RĂŒckenwind der vergangenen Jahre (mit dem Ziel einer
ambivalenzfreien Rehabilitation der âRationalitĂ€t strenger Ăkonomikâ) zum
insgesamt positiv bewerteten Homo oeconomicus zu stilisieren, dem nur die
letzte Konsequenz noch fehle.248 Angestrebt wird im gegenwÀrtigen Kontext
vielmehr eine möglichst genaue sozioanalytische Objektivierung der Ă€uĂerst
widersprĂŒchlichen und aspektreichen Romanfigur.
Persönlich hat Musil Walther Rathenau â vielleicht sogar in dessen eige-
nem Haus249 â Anfang 1914 bei einem der von Franz Blei organisierten Ber-
liner Diskussionsabende kennengelernt (vgl. Tb 2, 173, Anm. 125a) und so-
gleich âunter dem Aspekt seiner literarischen Verwertbarkeit betrachtetâ250,
wie schon der erste einschlÀgige Eintrag in das Arbeitsheft 7 zeigt (vgl. Tb 1,
295 f.). Die zunÀchst noch unverhohlen unter dem Namen Rathenau firmie-
rende Romanfigur ist schon in den frĂŒhen Notizen zum Spion-Projekt âfes-
ter Bestandteil der Konzeptionâ251. Walter Fanta hat aus dieser Arbeitsphase
(1920â22) im Nachlass 22 Rathenau-Belege identifiziert, doch ausdrĂŒcklich
darauf hingewiesen, dass darin ânie [âŠ] die reale Person Walther Rathenau
vorgestelltâ sei, sondern âstets ein vorlĂ€ufiger Nameâ der Romanfigur.252
SpÀtestens nach dem August 1922 wird dann in allen Arbeitsheft- und Map-
peneintrÀgen nur noch der Name Arnheim verwendet.253 In der weiteren
247 So Magris : Arnheim und Papa Fischel, S. 144â146, Zit. S. 144. Das âPortrĂ€t Arnheimsâ sei âder
gnadenloseste Rechenschaftsbericht und die böseste Registration des Zusammenbruchs jedes
[?] auf hegelischem, bĂŒrgerlichem oder marxistischem Grund entstandenen Humanismusâ
(ebd.). Mehr noch : âArnheim ist die Negation der dem Menschen wirklich offenstehenden
Zukunft, und er ist die Negation Kakaniens und seiner humanistischen und traditionalistischen
Vergangenheit, die in den Augen Musils dieser ungewissen und tastenden Zukunft sehr viel
mehr an menschlicher Substanz zu ĂŒberliefern hatte als das Fortschrittlertum des 19. Jahrhun-
derts.â (S. 145)
248 So die âgewissermaĂen ein Herz fĂŒr Banker und Kaufleuteâ aufbringende Studie von Blaschke :
Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 302â313, Zit. S. 302 u. 306, die Arnheim âdie Kom-
promiĂbereitschaft mit den alten MĂ€chten (Adel, Politik, MilitĂ€r)â vorhĂ€lt, âstatt beim ver-
nĂŒnftigen Smithschen Marktgedanken zu bleibenâ, wodurch er einen âGrenzfall des homo
oeconomicusâ darstelle.
249 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 482.
250 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 272.
251 Ebd., S. 272. Ein Beleg dafĂŒr ist das âStammblattâ der Figur Arnheim aus dem Jahr 1920 (M
VII/3/5 f.).
252 Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 230.
253 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 276.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208