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413âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Entwicklung der Arnheim-Figur verschmilzt Musils immer lĂ€nger zurĂŒcklie-
gender persönlicher Eindruck Rathenaus mit verschiedenen LektĂŒrefrĂŒchten
aus der mystizistischen und allgemein neuromantischen bzw. irrationalis-
tischen Literatur der Jahrhundertwende (vor allem Ellen Keys und Maeter-
lincks, vgl. Tb 1, 152â169 u. 587â591). So wird Arnheim bereits in der Erlöser-
Phase 1924/25 âstrikt zusammengedacht mit Diotimaâ254 und mit beiden das
Motiv âUnordnung des GeschwĂ€tzesâ (MoE 2001) verbunden, das noch im
kanonischen Romantext des Mann ohne Eigenschaften ihr Auftreten und ihre
pathetisch-inhaltsleeren ĂuĂerungen kennzeichnet.
Wie Ulrich hat auch Arnheim seine Kapitalausstattung von einem starken
Vater geerbt. Im Unterschied aber zum Mann ohne Eigenschaften strÀubt er
sich nicht gegen die soziale Vererbung, sondern definiert sich habituell aus-
drĂŒcklich ĂŒber sie, zumal er âals Erbe seines Vaters [âŠ] schon als Ereignis
geboren wordenâ war (MoE 327). Dass Musil die aus der ökonomischen Pro-
speritÀt resultierende Privilegierung seiner Figur besonders herausstreichen
will, geht aus seiner Abweichung von der Rathenauâschen Familiengeschichte
hervor, die fĂŒr die ersten Lebensjahre Walthers weder eine besondere Idoli-
sierung des erstgeborenen Sohnes durch die Familie, noch einen Reichtum
bezeugt, der die mit einem mittelgroĂen Unternehmen damals ĂŒblicherweise
verbundenen Dimensionen ĂŒbersteigen wĂŒrde (ein solcher wurde erst spĂ€ter
erworben).255 Verglichen mit der zu beerbenden familiÀren Kapitalmischung
im bildungsbĂŒrgerlichen vĂ€terlichen Haushalt des Mannes ohne Eigenschaf-
ten weist jene der Familie Arnheim indes eine geradezu kontrÀre Struktur auf.
Zum sozialen Hintergrund des fiktionalen Industriellensohns berichtet der Er-
zĂ€hler : âEr war unermeĂlich reich. Sein Vater war der mĂ€chtigste Beherrscher
des âeisernen Deutschlandââ (MoE 96), was mit den realen VerhĂ€ltnissen der
Rathenaus wenig gemein hat256, aber die projektive Phantasie der Musilâschen
Romanfiguren gewaltig stimuliert. Zu Beginn der BasiserzÀhlung ist Arnheim
âschon weit ĂŒber Vierzigâ (MoE 96), ja â wie es an anderer Stelle heiĂt â sogar
254 Ebd., S. 277.
255 Vgl. Schölzel : Rathenau, S. 20â28 ; Brenner : Rathenau, S. 11â14, nennt sein Eingangskapitel
sogar âDie imaginierte Notâ und begrĂŒndet das mit Rathenaus stĂ€ndiger Klage, er âhabe eine
schwere Kindheit gehabt, geprĂ€gt von Verzicht, von Strenge, einem ĂŒbermĂ€chtigen Vater, der
die Kinder seinen zeitweiligen beruflichen MiĂerfolg spĂŒren lieĂ, und einer zarten Mutter, die
darunter litt, daĂ sie ihrem Lieblingssohn Walther nicht das bieten konnte, was er verdienteâ
(S. 11). In der Folge korrigiert er diese Selbstdarstellung freilich : âBei unbefangener Betrach-
tung muĂ man sagen : Die Not des jungen Rathenau entsprang allein seiner Imagination. Seine
Kindheit war â zumindest was die Ă€uĂeren UmstĂ€nde und die Sorgfalt er Eltern anging â privi-
legiert, um nicht zu sagen, harmonisch.â (S. 11)
256 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 277 f., bes. Anm. 218.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208