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421âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
sogar eigens herausgestrichen, indem der Autor Diotima nach dem Muster
Freudâscher Verneinung bemerken lĂ€sst, dass Arnheim ânicht im geringsten
jĂŒdisch aussahâ (MoE 109).
Als PreuĂe jĂŒdischer Abstammung (vgl. MoE 543) â dessen Judentum lange
nur als GerĂŒcht kolportiert wird279 â kennzeichnet Arnheim in Kakanien eine
doppelte soziale ExterioritĂ€t, die in der Rede vom âgenialenâ (MoE 108) und
zudem âkĂŒhnen AuĂenseiterâ (MoE 107) zum Ausdruck kommt : Er steht
nicht allein âfĂŒr eine problematische Verbindung mit Deutschlandâ280, sondern
ĂŒberdies fĂŒr die assimilatorische Strömung innerhalb des deutschen Juden-
tums, die in der latent bis manifest antisemitischen Gesellschaft Kakaniens ge-
nauso wie im Wilhelminischen Reich mit heftigen Ressentiments zu rechnen
hat. Insofern entbehrt Diotimas Leidenschaft âfĂŒr den inkorrekt vornehmen
BĂŒrgerlichen, den Eindringling, der die erbgesessene Macht beschĂ€mte, wie
der gelehrte griechische Sklave einst seine römischen Herren beschĂ€mt hatâ
(MoE 107 f.), nicht eines gewissen abenteuerlichen Beigeschmacks, der in er-
frischendem Gegensatz zu ihrem langweiligen und unbefriedigenden Eheall-
tag steht. Selbst der dem (aus seiner Sicht neureichen) PreuĂen gegenĂŒber
Ă€uĂerst skeptisch gesinnte Graf Leinsdorf kommt nicht umhin, hinsichtlich
Arnheims zu konzedieren : âAlles in allem muĂ man zugeben, daĂ er eine
interessante Persönlichkeit ist.â (MoE 190) Was das im Einzelnen heiĂt, soll in
den folgenden Ăberlegungen noch deutlicher werden.
Der oben erwÀhnte Umstand, dass der alte Samuel Arnheim die Kontrolle
ĂŒber sein Firmenimperium nicht loslassen kann, hat einschneidende habituelle
Konsequenzen fĂŒr den um Anerkennung ringenden Sohn, der immer wieder
Kriegs-Roman-Fragment, worin âder Jude Rathenau zum semitischen Phönizier umgedeutetâ
werde. Wie allerdings Ulrich Boss anhand einer ausfĂŒhrlichen Motivstudie jĂŒngst rekonstruiert
hat, ist das seinerzeit topische Bild des Phöniziers selber antisemitisch codiert, was sich in Mu-
sils Rede vom âphönikisch harte[n] HerrenkaufmannsschĂ€delâ niederschlĂ€gt ; vgl. Boss : Eine
âbemerkenswerte Einzelheitâ.
279 So erwĂ€hnt der ErzĂ€hler beilĂ€ufi g, âdaĂ Dr. Arnheim â wenn sich auch die GerĂŒchte wider-
sprachen und verlĂ€Ăliche Nachrichten noch nicht vorlagen â von jĂŒdischer Abstammung sein
sollte : von seinem Vater wurde das nÀmlich mit Sicherheit erzÀhlt, nur die Mutter war schon
so lange tot, daĂ eine Weile vergehen muĂte, ehe man Genaues erfuhrâ (MoE 108). Angesichts
der spÀter unmissverstÀndlich gegebenen Informationen (vgl. MoE 189 u. bes. MoE 543) kann
extradiegetisch kein Zweifel ĂŒber die fĂŒr âdie jĂŒdische Herkunft Arnheims [âŠ] wesentliche
Abstammung der Mutterâ bestehen, die laut Corino : Musil [2003], S. 870, âim unklaren bleibtâ.
Hinsichtlich des Judentums meint Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik,
S. 279, dass dieses fĂŒr Arnheim, âanders als fĂŒr Rathenau, keine zentrale Frage des eigenen
geistigen SelbstverstĂ€ndnissesâ sei.
280 So Maier-Solgk : Sinn fĂŒr Geschichte, S. 251.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208