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422 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
staunend wahrnimmt, wie âdas vĂ€terliche Wort gerade aufgrund seiner Macht
das Wahrscheinliche in Schicksal zu verwandelnâ281 vermag. Es gelingt ihm
deshalb nicht, sich in der Selbst- und Fremdwahrnehmung vom ĂŒbermĂ€chti-
gen Vater zu befreien : âNiemand wuĂte besser als er, daĂ auch seinem Vater
zuweilen GeschĂ€fte fehlschlugen ; aber niemand wĂŒrde es ihm geglaubt ha-
ben, denn sobald jemand im Rufe steht, ein Napoleon zu sein, gewinnt er auch
seine verlorenen Schlachten.â (MoE 542) Zwischen den zwei Generationen
der Arnheimâschen Familie besteht bei aller WertschĂ€tzung insbesondere des
Sohnes gegenĂŒber seinem Vater eine unĂŒberbrĂŒckbare habituelle Distanz :
Den alten Arnheim schien es auch zu freuen, daĂ der junge Arnheim so viel wuĂte
und konnte ; aber wenn eine wichtige Frage zu entscheiden war, und man hatte sie
tagelang produktions- und finanztechnisch, geist- und wirtschaftspolitisch erörtert
und dargelegt, so dankte er, befahl nicht selten das Gegenteil von dem, was man
ihm vorschlug, und hatte auf alle Einwendungen, die man ihm machte, nur ein hilflos
eigensinniges LĂ€cheln zur Antwort. Oft schĂŒttelten sogar die Direktoren die Köpfe
darĂŒber, aber ĂŒber kurz oder lang stellte es sich jedesmal heraus, daĂ der Alte auf die
eine oder andere Weise recht hatte. (MoE 542)
In solchen Augenblicken manifestiert sich beim Vater Arnheim jene intenti-
onal und diskursiv nicht vermittelbare FĂ€higkeit282, die Rathenau in seinem
frĂŒhen Essay Physiologie der GeschĂ€fte (1901) als divinatorisches Vermögen
beschrieben hatte.283 Weit davon entfernt, ein solches zu leugnen, analysiert
Bourdieu es in Anlehnung an umgangssprachliche AnnĂ€herungen als âprak-
tischen Sinnâ, der zwar keinem bewussten zweckrationalen KalkĂŒl folgt, dem
aber unbewusste, gleichwohl objektivierbare Strategien innewohnen :
Die Sprache der Strategie, die zu verwenden man gezwungen ist, um die in allen
Feldern zu beobachtenden, objektiv auf ein Ziel gerichteten Handlungssequenzen zu
benennen, darf nicht tĂ€uschen : Die wirksamsten Strategien [âŠ] sind diejenigen, die
als Produkte von Dispositionen, die von den immanenten Erfordernissen des Feldes
281 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 129.
282 Vgl. dazu schon Musils frĂŒhe Notizen zum Spion-Projekt : âDer alte Rathenau ein ekelhafter
aber wunderbarer Kerl. Haupteigenschaft : das Kommende zu wissen ; spÀter stellt sich dieses
GefĂŒhl der Unmöglichkeit des MiĂlingens ein. Von daher hat Rathenau jun. seinen Begriff der
Intuition, der nicht nur fĂŒrs mystische Leben gelten soll.â (M VII/3/6 B 20 ; Tb 2, 1095)
283 Vgl. MĂŒhl (= Rathenau) : Physiologie der GeschĂ€fte, S. 510 : âGroĂe Vermögen entstehen nicht
durch Spiel ; sie entstehen aber auch nicht durch Arbeit.â Mehr dazu bei Heimböckel : Rathe-
nau und die Literatur seiner Zeit, S. 90â100.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208