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423âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
geformt wurden, sich diesen spontan, ohne ausdrĂŒckliche Absicht oder Berechnung
anzupassen tendieren.284
Es handelt sich dabei â objektiv betrachtet â um ein âregelmĂ€Ăigesâ Verhalten,
das aber eben subjektiv keiner expliziten Regel folgt : âDer praktische Sinn
ermöglicht zu handeln comme il faut (hÎs dei, wie Aristoteles sagt), ohne ein
(Kantsches) âSollenâ, eine Verhaltensregel, aufzustellen oder anzuwenden.â285
Dieser Umstand gibt dem jungen Arnheim viel zu denken : Der am allmÀch-
tigen Vater verzweifelnde Sohn strĂ€ubt sich lange âzu verstehen, daĂ ein alter
Praktikus eine Menge weiĂ und kann, was sich theoretisch nicht vorhersehen
lĂ€Ătâ, streckt aber an einem âfolgenschwere[n] Tagâ die Waffen, indem er ent-
deckt, âdaĂ der alte Samuel Arnheim Intuition habeâ (MoE 542).286 Zu diesem
von Musil an anderer Stelle mit einigem Spott bedachten (angeblich rational
nicht erklÀrbaren) Vermögen287 kommentiert auch sein ErzÀhler bissig :
Intuition zu haben, war damals bei allen Leuten an der Zeit, die ihr Tun mit der Ver-
nunft nicht recht verantworten konnten ; es spielte ungefÀhr die gleiche Rolle, die es
augenblicklich innehat, Tempo zu besitzen. Alles, was man falsch machte oder was
einem zu innerst nicht restlos gelang, wurde dadurch gerechtfertigt, daĂ es fĂŒr die In-
tuition oder durch sie geschaffen sei, und man benutzte Intuition sowohl zum Kochen
wie zum BĂŒcherschreiben [âŠ]. (MoE 545)
Die im Lauf eines langen GeschÀftslebens habituell erworbene, soziologisch
und psychologisch (vgl. GW 8, 1053 f.) durchaus objektivierbare âIntuitionâ
284 Bourdieu : Meditationen, S. 178.
285 Ebd.
286 Angelegt ist die Intuitions-Thematik bereits in Musils erstem Eintrag ĂŒber Rathenau im Ar-
beitsheft 7 : âEr sagt (und hier erleuchtete er mich als Vorbild zu meinem groĂen Finanzmann
[âŠ]) : Mit der Berechnung erreichen sie im GeschĂ€ftsleben gar nichts. Wenn sie klĂŒger sind
als der andere, so sind sie es einmal ; denn das nÀchstemal nimmt er sich ganz zusammen und
ĂŒberlistet sie. Wenn sie mehr Macht haben als er, so tun sich das nĂ€chstemal mehrere zusam-
men und haben mehr Macht als sie. Nur wenn sie die Intuition haben, erreichen sie im Ge-
schĂ€ftsleben etwas ĂŒber die Menschen ; wenn sie visionĂ€r sind und nicht an den Zweck denken,
nicht denken, wie fange ich es jetzt klug an [âŠ] (Was meinen anderen Frechen erschĂŒttern
könnte. [âŠ] Nicht nur die Ă€uĂere PrĂ€potenz, sondern auch dieser innere Schwindel ? Knacks.)â
(Tb 1, 295 f.; vgl. den Verweis hierauf in Tb 2, 1127).
287 Vgl. den Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921) : âEine Frage fĂŒr sich ist die Intuition. Ich
beantrage, alle deutschen Schriftsteller möchten sich durch zwei Jahres [sic] dieses Wortes
enthalten. Denn heute steht es so damit, daĂ jeder, der etwas behaupten will, was er weder be-
weisen kann, noch zuendegedacht hat, sich auf die Intuition beruft. In der Zwischenzeit möge
jemand die zahllosen Bedeutungen dieses Worts aufklĂ€ren.â (GW 8, 1053)
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208