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427âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
symbolisch diskreditierte eigene Familie öffentlichkeitswirksam zu rehabili-
tieren, ja tendenziell zu nobilitieren. In einer bezeichnenden Szene, die hier
aufgrund ihrer Aussagekraft fĂŒr das VerhĂ€ltnis von Vater und Sohn fast zur
GÀnze zitiert sein soll, eröffnet Arnheim seinem Vater die bedeutungsschwan-
gere eigene Einsicht, âdaĂ dieser seine GeschĂ€fte durch Intuition macheâ ; er
erzielt damit zunÀchst sogar einen gewissen Erfolg :
[D]em alten Arnheim war nichts davon bekannt, und er lieĂ sich wahrhaftig verlei-
ten, ĂŒberrascht zu seinem Sohn aufzublicken. Es war das ein groĂes Frohlocken fĂŒr
diesen gewesen. âGelderwerbenâ sagte er âzwingt uns zu einem Denken, das nicht
immer vornehm ist. Dabei ist es wahrscheinlich, daĂ wir groĂen GeschĂ€ftsleute dazu
berufen sind, bei der nĂ€chsten Wendung der Geschichte die FĂŒhrung der Massen zu
ĂŒbernehmen, ohne daĂ wir wissen, ob wir seelisch dazu imstande sein werden ! Wenn
es aber etwas auf der Welt gibt, das mir dazu Mut machen kann, so bist es du, denn
du hast eine Gabe des Gesichts und Willens, wie sie in den alten groĂen Zeiten die
Könige und Propheten besessen haben, die noch von Gott geleitet wurden. Wie du
ein GeschÀft anpackst, ist ein Geheimnis, und ich möchte sagen, alle Geheimnisse,
die sich der Berechnung entziehen, sind vom gleichen Rang, ob es das Geheimnis
des Mutes, der Erfindung oder das der Sterne ist !â (MoE 544)
Die mit den ersten, noch vergleichsweise nĂŒchternen Worten gewonnene
Aufmerksamkeit des Vaters fĂŒr die Auslassungen seines ambitionierten Sohnes
hÀlt freilich desto weniger an, je hochtrabender Letztere werden und je weiter
sie sich von der nĂŒchternen GeschĂ€ftswelt entfernen :
KrÀnkend deutlich sah Arnheim vor sich, wie des alten Arnheim Blick, der zu ihm
erhoben gewesen war, nach seinen ersten SĂ€tzen sich wieder in die Zeitung senkte,
aus der er sich nicht mehr erheben sollte, so oft der Sohn auch von GeschÀften und
Intuition sprach. Dieses VerhÀltnis zwischen Vater und Sohn hatte immer bestanden,
und [âŠ] gleichsam in der Leinwand dieser Erinnerungsbilder, kontrollierte es Arn-
heim auch jetzt. Er sah in der ĂŒberlegenen GeschĂ€ftsbegabung seines Vaters, die ihn
bestĂ€ndig bedrĂŒckte, etwas wie eine Urkraft, die dem komplizierteren Sohn uner-
reichbar bleiben muĂte, womit er das Vorbild aus dem Bereich vergeblicher Anstren-
gungen entrĂŒckte und sich gleichzeitig einen Adelsbrief seiner Abstammung schuf.
(MoE 544)
Die vom ErzÀhler deutlich ironisierte intellektuelle PrÀtention des ambitio-
nierten Sohnes hat in solchen KrÀnkungen bzw. in der durch sie manifesten
vÀterlichen Haltung ihre familiÀren Wurzeln ; sie erfÀhrt somit bei aller impli-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208