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428 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ziten Kritik eine gewisse Rechtfertigung oder zumindest BegrĂŒndung. Dieser
Sachverhalt sollte nicht unterschlagen werden, denn es ist gerade die gewal-
tige geistige Ambition des Nabobs, die fĂŒr seine habituelle Konstitution und
damit fĂŒr den Romankosmos insgesamt entscheidende Bedeutung erlangt :
Dr. Paul Arnheim war nicht nur ein reicher Mann, sondern er war auch ein bedeu-
tender Geist. Sein Ruhm ging darĂŒber hinaus, daĂ er der Erbe weltumspannender
GeschĂ€fte war, und er hatte in seinen MuĂestunden BĂŒcher geschrieben, die in vor-
geschrittenen Kreisen als auĂerordentlich galten. Die Menschen, die solche rein gei-
stigen Kreise bilden, sind ĂŒber Geld und bĂŒrgerliche Auszeichnung erhaben ; aber
man darf nicht vergessen, daĂ es gerade darum fĂŒr sie etwas besonders HinreiĂendes
hat, wenn ein reicher Mann sich zu ihresgleichen macht, und Arnheim verkĂŒndete in
seinen Programmen und BĂŒchern noch dazu nichts Geringeres als gerade die Vereini-
gung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht. (MoE 108)
Den sozialpsychologischen Hintergrund dieses bezeichnenden Projekts einer
programmatischen Verbindung ansonsten getrennter SphÀren der Gesell-
schaft, das in Rathenaus einschlÀgigen Bestrebungen und Wirkungen einen
biografischen Bezugspunkt hat297, diagnostiziert der analytische ErzÀhler mit
folgenden Worten : âEs hatte fĂŒr Arnheim [âŠ] nie eine andere Möglichkeit
gegeben, sich neben seinem Vater zu behaupten, als die von ihm gewÀhlte,
Geist, Politik und Gesellschaft in den Dienst des GeschĂ€ftes zu stellen.â (MoE
542) Ironischerweise wird nun die von ihm erhobene Forderung nach einer
âVereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Machtâ, die in man-
cher Hinsicht wie ein verwachsener Seitenast der von Ulrich angestrebten
Verbindung der gegensĂ€tzlichen Pole âRatioâ und âMystikâ anmutet, von eini-
gen romanesken Zeitgenossen als bereits in Arnheims Person selbst realisiert
wahrgenommen â was dem ErzĂ€hler erlaubt, von neuem das bereits erwĂ€hnte
âintime GerĂŒchtâ von dessen MinisterplĂ€nen zu thematisieren :
Die empfindsamen, mit der feinsten Witterung fĂŒr das Kommende begabten Geister
verbreiteten die Meldung, daà er diese beiden, in der Welt gewöhnlich getrennten
Pole in sich vereine, und begĂŒnstigten das GerĂŒcht, daĂ eine moderne Kraft auf dem
Wege und berufen sei, einstmals noch die Geschicke des Reichs und wer weiĂ viel-
leicht der Welt zum Bessern zu lenken. Denn daà die GrundsÀtze und Verfahren der
alten Politik und Diplomatie Europa in den Graben kutschierten, war ein seit langem
297 Vgl. Hellige : Rathenau : ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus, S. 49 ;
Heimböckel : Rathenau und die Literatur seiner Zeit, S. 12 f. u. 15 ; Corino : Musil [2003], S. 871.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208