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442 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
bei Unternehmern, die âihre Ăberlegenheit dadurch demonstrieren, daĂ sie
die ĂŒberzĂ€hligen BeschĂ€ftigten auf die StraĂe setzenâ321 â oder eben groĂmĂŒ-
tig davon absehen können, wenn ihnen danach ist. FĂŒr den vĂ€terlich gesinn-
ten Arnheim ist aber auch das noch nicht genug : So besucht er â abweichend
von seinem historischen Modell Rathenau322 â âzum Staunen seines Vaters
und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte wÀhrend eines Stu-
dienjahrs in ZĂŒrich die anstöĂige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen ge-
machtâ, was ihn aber keineswegs daran hindert, âandern Tags rĂŒcksichtslos
zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengenâ (MoE 385). Am Sozialismus
scheint ihn denn auch weniger dessen sozialpolitische Agenda, sondern eher
der wissenschaftliche Anspruch zu interessieren : âArnheim konnte [âŠ] von
sich sagen, daĂ er wie ein Sozialist denke, und viele reiche Leute denken wie
Sozialisten. Sie haben nichts dagegen, daĂ es ein Naturgesetz der Gesellschaft
sei, dem sie ihr Kapital verdankenâ (MoE 420). Die von Marx herrĂŒhrende ge-
schichtsphilosophische BegrĂŒndung unterschiedlicher gesellschaftlicher Ent-
wicklungsstufen sowie vor allem die revolutionÀre Lehre von der dialektisch
voranschreitenden historisch-materialistischen Entwicklungsdynamik in Rich-
tung âklassenloser Gesellschaftâ erscheint hier zu einer kruden Legitimation
des bestehenden Status quo verbrÀmt.323 Wen sollte es da wundern, dass der
selbsterklĂ€rte Sozialistenfreund Arnheim spĂ€terhin âkonservativen Erkennt-
nissenâ âimmer mehr Raumâ gibt (MoE 385), ohne aber gĂ€nzlich einer ĂŒber-
kommenen Gesellschaftsform das Wort zu reden :
Er war kein Snob, kein Anbeter des ihm ĂŒberlegenen Teils der Vornehmen ; bei Hof
eingefĂŒhrt und in BerĂŒhrung mit dem Hochadel wie mit den Spitzen der BĂŒrokratie
getreten, suchte er sich keineswegs dieser Umgebung als Nachahmer, sondern nur als
Liebhaber konservativ feudaler Lebensgewohnheiten anzupassen, der seine bĂŒrgerli-
che, sozusagen Frankfurterisch-Goethesche Herkunft weder vergiĂt, noch vergessen
machen will. (MoE 388)
321 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 96.
322 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 279, Anm. 222. Weder der Kon-
takt mit der Arbeiterbewegung noch auch nur ein Studium in ZĂŒrich sind demnach fĂŒr Rathe-
nau belegt.
323 Musil zeigt damit gut nietzscheanisch, dass der wissenschaftliche Anspruch jeder â nicht nur
marxistischer â Geschichtsphilosophie, die der Historie eine Naturgesetzlichkeit unterstellt,
einem âWillen zur Machtâ entspricht. Dieses als interesseloser âWille zum Wissenâ camouflierte
Verlangen, das sich zur Verfolgung seiner Interessen wissenschaftlicher SeriositÀt und Legitimi-
tÀt bedient, impliziert inhaltlich eine zumindest einseitige Wahrnehmung der Wirklichkeit.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208