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449âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
fangen hatte, weiterhin fern, aber er nahm auch nicht immer an den Gesell-
schaften teil, denn er war viel von der Stadt abwesend.â (MoE 188) Arnheims
Besuche in der kakanischen Hauptstadt und im Hause Tuzzi sind so wohl-
dosiert, dass keine Gewöhnung das jeweils groĂe Ereignis schmĂ€lern kann :
âEr kam und ging ; wĂ€hrend drei oder fĂŒnf Tage wie nichts verflossen, kehrte
er aus Paris, Rom, Berlin zurĂŒck ; was sich bei Diotima ereignete, war nur ein
kleiner Ausschnitt aus seinem Leben. Aber er bevorzugte ihn und war mit
ganzer Person in ihm anwesend.â (MoE 189) Ein nicht unerheblicher Grund
fĂŒr diese Bevorzugung mag neben seinem Interesse an Diotima auch in der
herausgehobenen Rolle liegen, die er in dem â als Aufmerksamkeitsmultipli-
kator fungierenden â Tuzziâschen Salon spielt und die der Stellung entspricht,
welche der regelmĂ€Ăig in den gesellschaftlich und politisch tonangebenden
Salons der deutschen Reichshauptstadt verkehrende Walther Rathenau inne-
hatte.336
Im Salon bewÀhrt sich wirtschaftliche Potenz allerdings nur dann, wenn sie
sich geschmackssicher zu geben weiĂ. Arnheims kĂŒnstlerische Vorlieben ver-
raten einen ausgesprochen gediegenen Geschmack, wie sich am Beispiel der
Literatur zeigen lÀsst : WÀhrend er den seinerzeit aufgrund seiner politischen
und moralischen Haltung sowie auch seiner jĂŒdischen Herkunft noch nicht
ganz salonfĂ€higen Heine âin verborgener Weise liebteâ (MoE 405 ; vgl. MoE
434), bekennt er sich zum reprĂ€sentativen deutschen DichterfĂŒrsten Goethe
öffentlich (vgl. MoE 433 f.).337 Die auffallende Kultiviertheit des Industriel-
lensohns wird nicht erst hier auf handgreifliche Weise staatstragend. Mehr
noch : âArnheim besaĂ ein vortreffliches GedĂ€chtnis und konnte seitenlang
auswendig zitieren.â (MoE 405) Seine â offenbar fĂŒr zeitgenössische Kauf-
leute gar nicht untypische338 â ostentative WertschĂ€tzung der Kunst wird vom
ideologiekritischen ErzĂ€hler allerdings als recht vordergrĂŒndig dekuvriert :
So schĂ€tzt er etwa einen bestimmten Dichter339 allein deshalb, âweil es fĂŒr
336 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 872.
337 Hier greift Musil auf historisch verbĂŒrgte Vorlieben Rathenaus zurĂŒck, gibt ihnen aber wiede-
rum eine charakteristische Note : Nach Heimböckel : Rathenau und die Literatur seiner Zeit,
S. 16, bildete Goethes âLeben und Werk eine Konstante in seinem [Rathenaus, N. C. W.] Den-
kenâ, wĂ€hrend Heine âin mancher Hinsicht fĂŒr Rathenaus Konversationsstil der frĂŒhen Phase
vorbildlich gewesen sein dĂŒrfteâ â spĂ€ter aber offenbar nicht mehr.
338 Vgl. etwa Keun : System des MĂ€nnerfangs, S. 271 f.: âKaufleute wollten eigentlich âwas andres
werdenâ, Kaufleute sind zuweilen lyrisch und haben ihren Beruf verfehlt. Was nicht hindert,
daĂ sie an ihrem Beruf hĂ€ngen wie die Kletten.â
339 Es handelt sich ironischerweise um den jungen Musil, wie der angefĂŒhrte Passus belegt (vgl.
MoE 384 f.), der ein Zitat aus der Versuchung der stillen Veronika (vgl. GW 6, 195) darstellt ; vgl.
Arntzen : Musil-Kommentar, S. 240 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208