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454 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
sich schon einmal gefragt, warum ĂŒber ElefantengröĂe heute kein Tier mehr hinaus-
wÀchst ? Sie finden das gleiche Geheimnis in der Geschichte der Kunst und in den
sonderbaren Beziehungen des Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten. (MoE 270)
Das âGeschĂ€ftâ â so lĂ€sst sich dieses Sinnbild resĂŒmieren â entspricht in seiner
inneren Struktur der âDichtungâ, die in Anlehnung an das klassisch-romanti-
sche KunstverstĂ€ndnis als organisch-ganzheitlicher âKosmos im kleinenâ ge-
fasst wird.352 Die ganze Tragweite der Analogiebildung Arnheims offenbart
sich dann, wenn man sie vor die Folie eines geradezu kontrÀren Sinnbildes
hĂ€lt, das Musil 1925 in seinen AnsĂ€tzen zu neuer Ăsthetik entwirft ; dort nĂ€m-
lich wird der Dichtung im âGegensatz zur normalen Welthaltungâ ein âande-
res Verhalten zur Weltâ bescheinigt : âZitiere leise fĂŒr dich ein Gedicht in der
Generalversammlung einer Aktiengesellschaft, und diese wird augenblicklich
ebenso sinnlos werden, wie es das Gedicht in ihr ist.â (GW 8, 1141 f.) Wie aus
dem Nachlass hervorgeht, wollte Musil dieses Bild, das die Eigengesetzlich-
keit, ja GegenlĂ€ufigkeit von kĂŒnstlerischem und ökonomischem KalkĂŒl veran-
schaulicht, noch Mitte der zwanziger Jahre sogar expressis verbis in den ent-
stehenden Roman integrieren, um den mÀnnlichen Protagonisten und seine
existenzielle Fremdheit zu charakterisieren (vgl. M VII/6/60 ; MoE 1751). Er
hat es dann aber bei sinngemĂ€Ăen Wendungen belassen, die er Ulrich in ei-
nem GesprĂ€ch mit Walter in den Mund legt und die auf eine âAuffassung der
Kunst als eine Lebensverneinung, als einen Widerspruch zum Lebenâ hinaus-
laufen, ohne deshalb das âGegenteil davonâ zu leugnen â nĂ€mlich, dass Kunst
gleichzeitig auch âLiebeâ sei (MoE 367). Wie man die gegenteiligen Auffas-
sungen von Kunst als âLiebeâ oder als âLebensverneinungâ auch im Einzel-
nen beurteilen mag, einer unmittelbaren Verwertungslogik sind jedenfalls
beide nicht zugÀnglich. Es handelt sich um die zwei Seiten einer Medaille,
die Arnheim beide fremd bleiben â weshalb er sich auch vor dem âSpottâ
Ulrichs so fĂŒrchtet und diesen in seinen GesprĂ€chen mit Diotima stets an-
wesend Abwesenden vor ihr gleich umso stÀrker attackiert (vgl. MoE 270).
Von Arnheims prinzipieller Leugnung einer strukturellen sowie funktionellen
Differenz zwischen dem kulturellen Bereich und demjenigen der Ăkonomie
im Sinne einer âInteressenfusion Seele-GeschĂ€ftâ (MoE 380 u. 389) ist auch
352 Es handelt sich hier freilich um ein popularisiertes VerstÀndnis u. a. der Kunstkonzeption Goe-
thes. Zu dessen tatsÀchlicher Analogiesetzung zwischen Kunst und Leben/Natur vgl. etwa die
Differenzierungen in Wolf : Streitbare Ăsthetik, S. 419â443 u. 493â497. Auch Novalis : Vorarbei-
ten zu verschiedenen Fragmentensammlungen 1798, S. 381, Nr. 296, bezeichnet zwar nicht die
Dichtung, aber doch den (mit seinen kĂŒnstlerischen Hervorbringungen als strukturhomolog
konzipierten) âĂ€chte[n] Dichterâ als âeine wirckliche Welt im Kleinenâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208