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455âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
seine wohl wichtigste, weil stÀndig zum Besten gegebene Maxime gezeichnet,
die von den Zeitgenossen indes begierig aufgesogen wird ; sie lÀuft auf das
hochtrabende Postulat hinaus, âIdeen in MachtsphĂ€ren zu tragen !â (MoE 109 ;
vgl. MoE 176, 199 u. 271) Von einer besonders intensiven Auseinandersetzung
mit Ideen, die nicht seinem privatesten Eigeninteresse entsprechen, ist bei
Arnheim jedoch nicht allzu viel zu bemerken. Seine humanistisch verbrÀmte
Bildungsbeflissenheit, die sich als Synthese der in Wilhelm Meisters Lehrjah-
ren noch auf die Figuren Wilhelm und Werner verteilten SphÀren von Kunst
und Ăkonomie prĂ€sentiert353, gipfelt im uneingeschrĂ€nkten Glauben an âjene
höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kannâ (MoE 393).
TatsĂ€chlich, so lieĂe sich seine zentrale Maxime aus der Sicht Ulrichs und des
ErzÀhlers ideologiekritisch wenden, betreibt er wohl trotz aller gegenteiligen
Verlautbarungen vor allem die umgekehrte â und aus kĂŒnstlerischer Sicht fa-
tale â Taktik, Machtinteressen in IdeensphĂ€ren zu tragen. Insofern ist es kei-
neswegs abwegig, in Arnheim eine âAllegorie der Funktionalisierung von Kul-
tur fĂŒr politische Zweckeâ zu sehen354, unabhĂ€ngig davon, ob und wie Musil in
den dreiĂiger Jahren angesichts der nationalsozialistischen âMachtĂŒbernahmeâ
eine Ehrenrettung des âjĂŒdischen Kapitalistenâ in den Schlusskapiteln seines
Romans zu realisieren beabsichtigte.355
AbschlieĂend sei festgehalten : Mit dem GroĂindustriellensohn Paul Arn-
heim entwirft Musil eine literarische Figur, die im zeitgenössischen deutsch-
sprachigen Roman einzigartig ist. Dies mag wohl auch am kĂŒnstlerischen
Darstellungsproblem liegen, das man sich damit zwangslÀufig einhandelt. In
353 Vgl. Goethe : Wilhelm Meisters Lehrjahre [1. Buch, 10. Kap.], S. 37â40. Zur Problematik der
Synthese die bĂŒndig formulierte Diagnose von Barnouw : ZeitbĂŒrtige Eigenschaften, S. 175 :
âArnheims Synthese ist unmöglich, im schlechten Sinne utopisch.â
354 So Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 242, in kritischer Absicht ĂŒber die (tatsĂ€ch-
lich wohl etwas ĂŒberzogene) Deutung von Strutz : Politik und Literatur, S. 35 f.
355 Mehr dazu bei Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 243 f. Vor dem Hintergrund der
nachgelassenen Ăberlegungen Musils zur Romanfortsetzung ist die am kanonischen Roman-
text entwickelte These von Pott : Besitz und Bildung, S. 131, âdass die anfĂ€nglich satirische und
also kritische Darstellung Arnheims in eine zunehmend differenziertere und ernstere ĂŒbergeht,
so dass die Gedanken Arnheims kaum noch von Ulrichs oder Musils Gedanken zu unterschei-
den sindâ, selber zu differenzieren. Bei den von Pott zur Untermauerung seiner Argumentation
angefĂŒhrten Romanpassagen ĂŒber Arnheim spielt ĂŒberdies die erzĂ€hlerische Ironie eine nicht
zu vernachlÀssigende, relativierende Rolle hinsichtlich der getÀtigten Propositionen. Zur Ge-
samtbewertung der Figur vgl. auch Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 242 : âOb
Arnheims Intentionen konstant dieselben bleiben [âŠ] und welches sein âwahresâ ideologisches
Gesicht sei, das sich am Ende des Romans zeigen wĂŒrde, bleibt in den konzeptionellen Ăberle-
gungen Musils undeutlich. [âŠ] Die endgĂŒltige Bewertung Arnheims bleibt ausstĂ€ndig, sie wird
in Musils Planungen bis in die Mobilisierungskapitel geschoben.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208