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458 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Zeitung, der stets auf der Suche nach literarisch verwertbarem Material war,
hat dieser Text offenbar bleibenden Eindruck hinterlassen, wenngleich nicht
unbedingt positiven : âFĂŒr Musil wurde Harrach aufgrund solcher Stilistik zum
Inbegriff des altösterreichischen Adeligen, der sein Wohl und Wehe mit dem
Herrscherhaus verknĂŒpft hatte â und es doch ĂŒberlebte.â365
Als ideologisches Vorbild der Leinsdorf-Figur gilt freilich weniger Harrach,
sondern an erster Stelle Alois Prinz von und zu Liechtenstein (1846â1920),
seines Zeichens MitbegrĂŒnder und nach Karl Luegers Tod von 1910 bis 1918
Obmann der Christlichsozialen Partei Ăsterreichs, der zusammen mit dem
zum Katholizismus konvertierten preuĂischen Antisemiten Karl von Vogel-
sang âeine spezielle Variante der katholischen Soziallehre ausgebildet hatteâ366,
âaufgrund seiner sehr wichtigen aristokratischen und kirchlichenâ Kontakte
parteiintern âdas verbindende Glied zwischen feudalklerikal und christlichso-
zialâ darstellte367, in der Ersten Republik aber schnell ins politische Abseits
befördert worden war.368 Schon 1874 hatte der auch spöttisch als âroter Prinzâ
titulierte Liechtenstein âdie GrĂŒndung einer Art von Gewerkschaften und von
katholischen Arbeitervereinenâ befĂŒrwortet, seine âWirkung auf die Sozial-
politik im Habsburger-Reich, in der österreichischen Republik und darĂŒber
hinausâ ist tatsĂ€chlich ânicht zu unterschĂ€tzenâ.369 In diesem scheinbar wi-
dersprĂŒchlichen politisch-ideologischen Profil bietet er fĂŒr Musils romaneske
Gestaltung eines reprÀsentativen Vertreters der kakanischen Hocharistokratie
in mehrerer Hinsicht aussagekrÀftiges Material. Denn, wie Howald feststellt :
âMusil hat offenbar noch immer die private Erinnerung an den Grafen Har-
rach im GedÀchtnis, versucht aber gleichzeitig, daraus eine sozial relevante
Figur mit einer ihr entsprechenden Theorie abzuleiten.â370 Zu diesem Zweck
scheint ihm ein (unsignierter) Nachruf der Neuen Freien Presse vom 26. MĂ€rz
1920 auf den am Vortag verstorbenen Alois Prinz Liechtenstein gelegen ge-
365 Ebd., S. 852 f.
366 Ebd., S. 853 ; vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 49â68 ; daneben MĂŒller : Ideo-
logiekritik und Metasprache, S. 16 ; FrisĂ©s Kommentar (Tb 2, 228) ; Howald : Ăsthetizismus und
Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 250 f.
367 So der anonyme Nachruf in der Neuen Freien Presse Nr. 19964 vom 26.3.1920, S. 2 f., hier S. 2.
368 Vgl. den Beginn des Nachrufs ebd.: âEin politisch Toter ist heute gestorben. Alois Liechten-
stein war lange vor dem Umsturz bereits in die Austragstube seiner Partei verbannt worden
und man hat ihm seine Verdienste um den Aufstieg der Christlichsozialen in Wien schlecht ge-
lohnt.â Musil konzipiert seine literarische Figur den eigenen Worten zufolge zu einer Zeit, âwo
man weiĂ, daĂ der GroĂteil der christlich sozialen [sic] Abgeordneten nur aus Opportunismus
bei der Partei istâ (Tb 1, 433 ; vgl. Tb 2, 227, Anm. 98).
369 Corino : Musil [2003], S. 853.
370 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 250.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208