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467âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
dernen, industriekapitalistischen Gesellschaft und ihren Entfremdungserschei-
nungen und Vermassungstendenzen aus. Im Gegenbild tauchte eine verklÀrte,
einfach strukturierte Agrargesellschaft auf.â397 In der Ideologie einer mögli-
chen Revitalisierung des traditionalistischen Sozialmodells vom âganzen Hausâ
(Wilhelm Heinrich Riehl), das Herrn und Knecht nach getaner Arbeit am
gemeinsamen Tisch versammelt, artikulierte sich âdie katholische Sehnsucht
nach gesellschaftlicher Harmonie und Konfliktfreiheitâ398. Als ĂŒberkommenes
Ideal der auch die verschiedenen Generationen integrierenden GroĂfamilie
wurde das mikrosoziale Leitbild einfach auf die makrosoziale Ebene ĂŒbertra-
gen : âDas KernstĂŒck der berufsstĂ€ndischen Ordnung lag im Konzept der (in
der Theorie) gleichberechtigten Stellung von Unternehmer und Arbeiter im
selben Berufsstand. Hier war der alte katholische Traum am Werk : das Prole-
tariat zu entproletarisieren.â399
Trotz seiner rĂŒckwĂ€rtsgewandten Gesinnung, die erstaunlich genau den
ideologischen Vorstellungen eines Engelbert DollfuĂ entspricht,400 ist die Ro-
manfigur Leinsdorf â anders als sein Stichwortgeber Alois Liechtenstein401 â
indes ein âMann, der sein Geld arbeiten lieĂ und mit den Methoden der Zeit
Schritt hieltâ (MoE 133). Wie in Musils Formulierung â deren Befund mit den
Ergebnissen der historischen Forschung zum Adel ĂŒbereinstimmt402 â bereits
anklingt, tut er dies insbesondere in ökonomischer Hinsicht :
397 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 315.
398 Ebd. Zur Legende vom âganzen Hausâ vgl. auch Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.
1, S. 81â83.
399 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 315.
400 Vgl. ebd. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 51 f., verweist auf die Herkunft der
stĂ€ndestaatlichen Vorstellungen DollfuĂâ und Schuschniggs aus der christlichsozialen Ideologie
Karl von Vogelsangs.
401 In diesem Zusammenhang ist besonders auf Liechtensteins âRessentiment gegen die Finanzâ
zu verweisen, das Musil in seinem Exzerpt aus dem Liechtenstein-Nachruf der Neuen Freien
Presse (Tb 2, 227) im Arbeitsheft 8 ebenso festhĂ€lt wie die Forderung nach âWiedereinfĂŒhrung
des Zinsenverbotsâ (Tb 1, 366 ; vgl. Tb 2, 229, Anm. 101), in der Figurengestaltung Leinsdorfs
aber fallen lĂ€sst. Mehr dazu bei Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 251â
253.
402 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 88 : âGegen Ende des 19. Jahrhunderts
hatte der alte Adel seine QualitÀt als Herrschaftsstand verloren ; er besaà zwar nach wie
vor ZĂŒge einer vormodernen Machtelite, aber im Kern war der Adel eine Besitzklasse von
GroĂgrundbesitzern mit stark stĂ€ndischen Relikten. [âŠ] Hier ragte die Feudalzeit noch
tief in die bĂŒrgerliche Gesellschaft hinein [âŠ]. Auf der anderen Seite bewies der Adel
eine bemerkenswerte AnpassungsfÀhigkeit an die neue Zeit. Er trat vielerorts als moder-
ner Unternehmer auf und hatte rasch seinen Frieden mit der Hochfinanz geschlossen.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208