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485âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
im Jahr 1880, auf mehr als eine Million vor 1890 und auf zwei Millionen 1910
stieg, aufrecht hieltâ.452 So blieb die Unterscheidung zwischen dem âFeu dal-
adel alter Abstammungâ und âeinem Dienstadel, in dem sich die adeligen
Familien niederen Ranges mit den ParvenĂŒs mischtenâ453, fĂŒr die gesamte
Endphase der Monarchie eine maĂgebliche Distinktion. Mit anderen Worten :
âDie Modernisierung des Kaiserreichs ging, weit entfernt von einer Infrage-
stellung des Systems, eher mit der gesellschaftlichen Diffusion dieses Kasten-
geistes ĂŒber den Adel hinaus einher.â454 Wie Michael Pollak gezeigt hat, exis-
tierten in der österreichischen Gesellschaft selbst innerhalb des BĂŒrgertums
gewichtige Hindernisse sozialer MobilitÀt :
Man kann sogar sagen, daĂ das Kastenmodell insbesondere die intellektuellen Frak-
tionen des BĂŒrgertums, die freien Berufe Medizin und Recht sowie das universitĂ€re
Korps kennzeichnete. Die alten Korporationen, aber auch die nationalliberalen Bur-
schenschaften, die sich in den 1850er Jahren konstituierten, vermittelten einen Ehren-
kodex auf der Grundlage eines Korpsgeistes. Mehr als nur ein Element studentischer
Folklore, macht die in Statuten festgelegte gegenseitige Hilfe der jeweiligen Korpo-
rationsmitglieder aus den Organismen Stellenvermittlungsagenturen fĂŒr den intellek-
tuellen Arbeitsmarkt, ebenso Orte der Harmonisierung von Interessen und Anliegen
der unterschiedlichen Fraktionen des kultivierten BĂŒrgertums.455
Sichtbar war das sogar innerhalb des universitÀren Bereichs, welcher allen
romantisierenden VerklÀrungen der (angeblich nur am besseren Argument
interessierten) Gelehrtenrepublik zum Trotz, ja âden Regeln einer Kasten-
gesellschaftâ gemĂ€Ă, âebenfalls seine ExklusivitĂ€tsregelnâ aufwies ; durch eine
strikte interne Hierarchisierung, die keineswegs allein an genuin wissenschaft-
lichen Kriterien ausgerichtet war, hat dies âdie unsichtbaren WĂ€nde, die die
unterschiedlichen Fraktionen der âGuten Wiener Gesellschaftâ voneinander
abgrenztenâ, noch vervielfacht.456
Ganz besondere Hindernisse sozialer MobilitĂ€t galten indes fĂŒr Ange-
hörige ethnischer oder religiöser Minderheiten wie die Juden. Zwar folgte
das jĂŒdische BĂŒrgertum ebenfalls dem skizzierten âAufstiegsmodellâ einer
452 Pollak : Wien 1900, S. 72.
453 Ebd., S. 71. Demnach âblieben mehr als die HĂ€lfte derer, die nur einen einfachen Titel oder den
eines Ritters verliehen bekamen, faktisch aus dem gesellschaftlichen Leben des Adels ausge-
schlossen.â
454 Ebd., S. 74.
455 Ebd., S. 75.
456 Ebd., S. 74 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208