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496 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
gen Romantext erweist sich Tuzzi dann in der Tat als braver und kritikloser
Exekutor der bestehenden Herrschaft. Er exemplifiziert dabei ein berufliches
Ethos, das realhistorisch in den totalitĂ€ren Regimes der dreiĂiger Jahre traurig
Epoche machen sollte489 â ganz im Sinne der oben zitierten EintrĂ€ge in Musils
Arbeitsheft 9 vom FrĂŒhjahr 1919, die ja unter den einschlĂ€gigen Stichworten
âBĂŒrokratieâ und âMachtpolitikerâ firmieren.
Was die fortschreitende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Profes-
sionalisierung betrifft, ist Tuzzi allerdings keineswegs vormodern eingestellt,
sondern verficht im Gegenteil eine konsequente Arbeitsteilung, wonach die
Politik den Politikern vorbehalten bleiben soll490 und insgesamt nur eine Sa-
che fĂŒr (wenige geeignete) MĂ€nner ist. Er glaubt an einen unĂŒberwindlichen
âGeschlechtergegensatzâ und hĂ€ngt âder daraus entspringenden rigorosen
MĂ€nnlichkeitsvorstellungâ an, inklusive der traditionellen Klischees mĂ€nnli-
cher StĂ€rke und HĂ€rte.491 Dementsprechend hat er bisweilen âdas lebhafte Be-
dĂŒrfnis, die Kinnbacken aufeinander zu pressen und durch die geschlossenen
ZĂ€hne zu spucken wie ein Matroseâ (MoE 335 ; vgl. MoE 416). Generell sieht
sich der phantasiearme FunktionÀr selbst als geistige AutoritÀt, was sich in
seiner Gewohnheit niederschlÀgt, in Fragen von gesellschaftlicher Bedeutsam-
keit âeinfach das geachtete Urteil des erfahrenen Mannes abzugebenâ (MoE
412). In gendertheoretischer Hinsicht ist der Diplomat, der ansonsten darauf
achtet, nicht zu viel Persönliches preiszugeben und dadurch undurchsichtig,
ja âeigenschaftslosâ zu erscheinen492, also mehr als durchschaubar. Auf eine
gewisse persönliche Undurchschaubarkeit und vielleicht sogar TiefgrĂŒndigkeit
deutet allenfalls Ulrichs Irritation ĂŒber
das dunkle, starke, viel unsicheres GefĂŒhl verratende Auge, das nicht im geringsten
ein Beamtenauge war, aber auch in keiner Weise zu Tuzzis gegenwÀrtiger Person
stimmte, wie sie sich in den GesprĂ€chen zeigte ; auĂer man nahm an, was ja nicht
selten vorkommt, daĂ es ein Knabenauge war, das zwischen den andersgearteten
ManneszĂŒgen durchblickte, wie ein Fenster, das zu einem unbenĂŒtzten, abgesperrten
und lĂ€ngst vergessenen Teil des Inneren fĂŒhrt. (MoE 413)
österreichischen RevolutionĂ€rs von 1848 : âDiese Idee, an den Menschen in einem FunktionĂ€r
zu appellieren, wĂŒrde einem Heutigen doch gar nicht kommen, der absolut auf das Unmensch-
liche der Funktion eingestellt ist.â (Tb 1, 354)
489 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 334.
490 Vgl. dazu Reinhardt : Studien zur Antinomie von Intellekt und GefĂŒhl, S. 66 f.; Howald : Ăsthe-
tizismus und Àsthetische Ideologiekritik, S. 298.
491 Ebd.
492 Zum biografischen Modell vgl. Corino : Musil [2003], S. 866.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208