Page - 499 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 499 -
Text of the Page - 499 -
499âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
nĂŒtzliche âMemoirenâ bevorzugt, âaus denen man geistvolle AussprĂŒche und
Menschenkenntnis lernen konnteâ (MoE 335).500 Interesseloser Kunstgenuss,
wie ihn das BildungsbĂŒrgertum immerhin seit der Weimarer Klassik propa-
giert hat und wie ihn auch Musil in mehreren Essays fordert, scheint ihm
hingegen kein ernst zu nehmendes Anliegen zu sein. Gleich vielen anderen
âEigenschaftenâ lĂ€sst sich auch Tuzzis bewusstes Kunstbanausentum auf seine
habituelle Orientierung am Adel zurĂŒckfĂŒhren, wie seine feinsinnige Beleh-
rung Diotimas zeigt : â[W]enn Kultur auch sozusagen das Salz in der Speise
des Lebens sei, so liebe feine Gesellschaft doch nicht eine allzu gesalzene KĂŒ-
che ; er sagte das ganz ohne Ironie, denn es war seine Ăberzeugungâ (MoE
106). Selbst der oben bereits angefĂŒhrte, vom ErzĂ€hler beilĂ€ufig erwĂ€hnte
Umstand, dass der Sektionschef âsich [âŠ] niemals Gleichnisse gestatteteâ,
wird nicht allein damit begrĂŒndet, dass sie ânach schlechter gesellschaftlicher
Haltung riechenâ, sondern insbesondere auch âweil sie zu literarisch sindâ
(MoE 201). Entsprechendes gilt fĂŒr die akademische Disziplin der Philoso-
phie, deren aktive Praxis er im Sinne seiner Maxime einer möglichst konse-
quenten gesellschaftlichen Arbeitsteilung nur den pragmatisierten Schul- und
Hochschullehrern zubilligt :
Philosophieren sollten eigentlich nur Professoren dĂŒrfen ! Ich nehme unsere aner-
kannten groĂen Philosophen davon natĂŒrlich aus, die schĂ€tze ich sehr hoch und habe
sie sÀmtlich gelesen ; aber die sind sozusagen nun einmal da. Und unsere Professoren
sind angestellt dafĂŒr, da ist es ein Beruf und braucht weiter nichts auf sich zu haben ;
schlieĂlich braucht man auch die Lehrer, damit die Sache nicht ausstirbt. Aber sonst
hat die altösterreichische Maxime, daĂ der StaatsbĂŒrger nicht ĂŒber alles nachdenken
soll, schon recht gehabt. Es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, und es hat leicht
etwas von AnmaĂung. (MoE 415)
Aus dieser âunverschĂ€mten Halbdummheit, die Tuzzi zum besten gegeben
hatteâ und die Ulrich ob ihrer unverdeckten brutalen SimplizitĂ€t zumindest
vorĂŒbergehend âentzĂŒcktâ (MoE 415), spricht eine seinem eigenen radikal-es-
sayistischen Lebensprogramm kontrÀre Grundhaltung : WÀhrend der kritische
Intellektuelle ĂŒber alles und jedes unentwegt reflektiert, plĂ€diert der realpoli-
500 Allerdings gibt ihm das Versiegen der Produktion von Memoirenwerken in der Moderne zu
denken und zeigt zugleich, dass er durchaus ĂŒber aktuelle kulturelle Strömungen informiert ist :
â[A]ber irgendetwas sollte es doch bedeuten, daĂ solche heute nicht mehr geschrieben wer-
den, und wahrscheinlich handelt es sich da um ein veraltetes BedĂŒrfnis, das einer Zeit neuer
Sachlichkeit nicht mehr angemessen ist.â (MoE 335)
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208