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510 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Auch seine eigene Tochter Gerda kann sich âunter Menschheit nichts vorstel-
lenâ, womit sie den SchlĂŒsselbegriff des gerade fĂŒr die Emanzipation assimi-
lationswilliger europÀischer Juden so wichtigen Projekts humanistischer und
universalistischer AufklĂ€rung preisgibt, wĂ€hrend sie ihre âNationâ â was immer
das in diesem verwickelten Fall sein mag â nachgerade âkörperlichâ zu fĂŒhlen
vermeint (MoE 479). Indem ein relativ inhaltsleeres Kollektivabstraktum sol-
cherart durch ein anderes, nicht minder abstraktes ersetzt wird, veranschaulicht
Musil die ontologische ArbitraritÀt und Wandelbarkeit intellektueller Moden.
Ăber die in diesem Zusammenhang nicht unerhebliche, gemeinschaftsstiftende
körperliche Komponente des modernen Nationalismus und Rassismus wird im
Kontext der Ăberlegungen zu Hans Sepp noch zu sprechen sein.538
Eine besondere Herausforderung fĂŒr das nichtjĂŒdische BĂŒrgertum der
Habsburgermonarchie bestand generell im weit ĂŒberdurchschnittlichen âBil-
dungseiferâ der assimilierten Juden539, mit dem die Emanzipation und der
mĂŒhelos scheinende soziale Aufstieg bewerkstelligt oder abgesichert werden
konnten, aber auch in ihren beeindruckenden bis spektakulÀren wirtschaftli-
chen âErfolgsgeschichtenâ540, die unter den Handeltreibenden oder Unterneh-
mern der christlichen Bevölkerungsgruppen â im Roman vertreten durch die
alleinstehende Mutter Hans Sepps, âdie ein kleines GeschĂ€ft betriebâ (MoE
554) â kaum ihresgleichen hatten. In der oben bereits erwĂ€hnten, gemeinsam
mit Luc Boltanski und Monique de Saint Martin verfassten soziologischen
Studie ĂŒber das Bildungskapital identifiziert Bourdieu einen mentalen und
wirtschaftlichen Hintergrund, der âzum faschistischen Kult des starken Man-
nes fĂŒhrtâ, in folgender Konstellation :
538 Vgl. dazu unten die AusfĂŒhrungen zu Hans Sepp.
539 Vgl. Hamann : Hitlers Wien, S. 469 f.: âDie unterschiedlichen AntriebskrĂ€fte und WertmaĂ-
stÀbe zeigten sich vor allem im Bildungseifer. Die Zahl der christlichen Gymnasiasten stieg von
21 213 im Jahre 1851 auf 99 690 im Jahre 1903/04, die der jĂŒdischen im selben Zeitraum von
1251 auf 15 880. 1912 war jeder dritte Wiener Gymnasiast Glaubensjude, [âŠ] dreimal mehr,
als es dem Bevölkerungsanteil entsprochen hÀtte. Alle Arten von höheren Schulen zusam-
mengenommen, betrug der Anteil jĂŒdischer SchĂŒler 1912 47,4 Prozent, also fast die HĂ€lfte.
WĂ€hrend â ohne Theologie â zwischen 1898 und 1902 nur 5,3 Prozent von 10 000 Christen
eine UniversitĂ€t besuchten, lag die Zahl bei den Juden bei 24,5 Prozent. JĂŒdische Studenten
stellten in Wien wie in Prag [âŠ] fast ein Drittel der Studenten. [âŠ] JĂŒdische Intelligenz wurde
in Wien um 1900 zum Schlagwort.â In diesem Zusammenhang ist freilich noch einmal darauf
hinzuweisen, dass die Figur Leo Fischels aus den erwĂ€hnten GrĂŒnden kaum als exemplarisch
fĂŒr den jĂŒdischen âBildungseiferâ gelten kann.
540 Vgl. ebd., S. 470 : âIn Handel und Wirtschaft gab es spektakulĂ€re Erfolgsgeschichten, wie etwa
die des Warenhauskönigs Alfred GerngroĂ, die nach seinem Tod in aller Munde warâ, aber
auch die nicht ganz so spektakulÀren, in ihrer Breitenwirkung jedoch mindestens ebenso be-
merkenswerten der zahlreichen jĂŒdischen Handwerker.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208