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516 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
was fĂŒr eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als politisch und sozial, zur Zeit, da
ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam. Es war nicht möglich,
insbesondere fĂŒr einen Juden, der in der Ăffentlichkeit stand, davon abzusehen, daĂ
er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch we-
niger. [âŠ] Und auch wenn man seine innere und Ă€uĂere Haltung so weit bewahrte
[âŠ], ganz unberĂŒhrt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgĂŒltig
bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren [sic] lieĂ, aber mit wachen und
offenen Augen zusehen muĂ, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut
kommt.552
Genau eine solche schlechterdings âunmöglicheâ Taktik der ostentativen
âGleichgĂŒltigkeitâ verfolgt indes Leo Fischel, doch angesichts der von seiner
eigenen Frau aus ganz anderen als primÀr ideologischen Motiven provokant
verteidigten antisemitischen Umtriebe im eigenen Haus fĂŒhlt sich der Bank-
prokurist jĂŒdischer Herkunft gleich von zwei Seiten in die Enge getrieben :
ââIch lache !â behauptete Fischel. Aber er irrte sich, er weinte ; innerlich, vor
Unmacht [sic], der geistigen VerÀnderungen in seiner Umgebung Herr zu
werden.â (MoE 480) Konfrontiert mit DiskursmĂ€chten, die stĂ€rker sind als er,
wirkt sein zĂ€her Kampf so aussichtslos wie anrĂŒhrend. Nicht nur in diesem
Zusammenhang fĂŒhrt Leo Fischel einen zermĂŒrbenden Zweifrontenkrieg, in
dem er sich immer mehr aufreibt. Zwischen Gerdas mythisch-irrationalem
Antisemitismus und den zwar höchst rationellen, aber enttÀuschten Aufstiegs-
hoffnungen Klementines befindet er sich strukturell in einer doppelten Ab-
wehrhaltung :
[E]r war am Ende immer froh, daĂ Gerda nicht merkte, wie sehr ihm etwas, das un-
vernĂŒnftig war, schon durch Gewohnheit die BefĂŒrchtung nahelegte, daĂ er werde
nachgeben mĂŒssen. Es kam so weit, daĂ er am SchluĂ solcher Unterredungen einige-
mal sogar die Ordnung der Parallelaktion vorsichtig zu loben anfing, als Gegensatz zu
den wilden GegenbemĂŒhungen in seinem Haus ; aber es geschah nur, wenn Klemen-
tine nicht in Hörweite war. (MoE 479)
In den zuletzt zitierten Worten zeigt sich, dass die auch bei Klementine dia-
gnostizierbare, eminent strategische Sprechweise und Gestik553 ganz Àhnlich
bei ihrem Gatten zu beobachten ist, der sich lange davor hĂŒtet, ihr in irgendei-
ner Weise entgegenzukommen.
552 Schnitzler : Jugend in Wien, S. 322.
553 Vgl. dazu den einschlÀgigen Abschnitt in Kap. II.2.2.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208