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532 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Er faĂte den Plan, zum Zivil ĂŒberzutreten, aber er wuĂte nicht, wie er ihn durchfĂŒh-
ren solle. Das SchluĂergebnis war, daĂ er fĂŒr den Generalstabsdienst weder fĂŒr ge-
eignet noch fĂŒr ausgesprochen ungenĂŒgend befunden wurde ; er galt fĂŒr ungeschickt
und unambitiös, aber fĂŒr einen Philosophen, wurde auf weitere zwei Jahre probe-
weise dem Generalstab beim Kommando einer Infanterietruppendivision zugeteilt
und gehörte nach Ablauf dieser Zeit als Rittmeister zur groĂen Zahl derer, die als
Notreserve des Generalstabs niemals wieder von der Truppe fortkommen, auĂer
es treten ganz ungewöhnliche VerhÀltnisse ein. Rittmeister Stumm diente jetzt bei
einem anderen Regiment, galt nun auch fĂŒr militĂ€risch gelehrt, aber die Sache mit
[âŠ] den praktischen FĂ€higkeiten hatten auch seine neuen Vorgesetzten bald heraus.
(MoE 342 f.)
Die ironisch inszenierte Abweichung vom tatsÀchlichen Lebenslauf Bechers
dient Musil offenbar dazu, ein besonderes kakanisches Kolorit zu erzeugen,
veranschaulicht er damit doch die von Walter inkriminierte und von Ulrich
zeitweise verteidigte âösterreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelnsâ
(MoE 216 ; vgl. MoE 361). Dementsprechend entbehrt Stumms weiterer be-
ruflicher Werdegang â in zahlreichen Einzelheiten sozialhistorisch durchaus
charakteristisch fĂŒr den militĂ€rischen Stand in der Habsburgermonarchie, aber
stets auf eine erzĂ€hlerische Pointe hin zugespitzt â nicht einer tragikomischen
Note :
Er machte die Laufbahn eines MĂ€rtyrers durch, bis zum Rang eines Oberstleut-
nants, aber schon als Major trÀumte er nur noch von einem langen Urlaub auf
WartegebĂŒhr[607], um den Zeitpunkt zu erreichen, wo er als Oberst ad honores, das
heiĂt mit dem Titel und der Uniform, wenn auch ohne den Ruhesold eines Obersten,
in Pension geschickt wĂŒrde. Er wollte nichts mehr von Beförderung wissen, die bei
der Truppe nach der Rangliste vorrĂŒckte wie eine unsagbar langsame Uhr ; nichts
mehr von den Vormittagen, wo man noch bei aufsteigender Sonne, von oben bis
unten beschimpft, vom Exerzierplatz zurĂŒckkehrt und mit bestaubten Reitstiefeln das
Kasino betritt, um die Leere des Tags, der noch so lang sein wird, um leere Weinfla-
schen zu vermehren ; [âŠ] und nichts wollte er von jenen NĂ€chten wissen, wo Staub,
Wein, Langeweile, Weite durchrittener Ăcker und Zwang des ewigen GesprĂ€ch-
gegenstandes Pferd verheiratete wie unverheiratete Herrn in jene fensterverhÀngte
Geselligkeit trieben, wo man Weiber auf den Kopf stellte, um ihnen Champagner
in die Röcke zu gieĂen, und vom Universaljuden der verdammten galizischen Gar-
607 Der oben erwĂ€hnte Hauptmann Hornbostel wurde 1905 tatsĂ€chlich âmit WartegebĂŒhr beur-
laubtâ, wie Corino : Musil [2003], S. 1726, Anm. 144, mitteilt.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208