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562 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
auf die âkonservativ-revolutionĂ€renâ PopulĂ€rphilosophen der zwanziger Jahre
(Spengler, Klages u. a.) verweist, wie Götz MĂŒller vermutet hat677, sondern
mindestens genauso auf die spintisierenden WelterklÀrer und Rassentheoreti-
ker aus Hitlers Wien. Musils ErzÀhler thematisiert selbst den hemmungslosen
Synkretismus, den die jungen âChristgermanenâ vertreten :
Wenn man die Ideen zusammenzĂ€hlte â was man aber nach den dort geltenden
Grundanschauungen nicht dĂŒrfte, denn diese waren Zahl und MaĂ abgeneigt â die
einander in dieser Gesellschaft ablösten, so wĂŒrde man [âŠ] in bunter Reihe noch
die herrlichsten auf den Wegen der Zeit aufgeklaubten Halme und GrÀser gefunden
haben, aus denen sich dem Geist ein Nest bauen lĂ€Ăt [âŠ]. (MoE 553)
Das vereinheitlichende Motiv all der heterogenen Ingredienzien des von Hans
Sepp und seinem Kreis gepflegten Diskurses besteht demzufolge in der unein-
gestandenen Funktion, dem in der Moderne âheimatlosâ gewordenen âGeist
ein Nest [zu] bauenâ, wie der ErzĂ€hler ideologiekritisch andeutet.
Das im Zentrum dieses Diskurses als âHauptlehrstĂŒckâ stehende âSym-
bolâ, durch dessen Erscheinungsformen678 âdas Verwirrte und Verzwergte des
Lebensâ angeblich âklar und groĂâ werde, ist unter dem Licht der Vernunft
betrachtet eine reichlich amorphe Vorstellung. Schon Ulrich hat mit deren
Nachvollzug seine Schwierigkeiten, weil die jungen âChristgermanenâ selber
weder in der Lage noch willens sind, sie zu erlÀutern :
[W]as ein Symbol, in nĂŒchternen Worten ausgedrĂŒckt, sei, das sagten sie nicht, er-
stens weil sich Symbole in nĂŒchternen Worten nicht ausdrĂŒcken lassen, zweitens weil
Arier nicht nĂŒchtern sein dĂŒrfen, weshalb ihnen im letzten Jahrhundert nur Andeu-
tungen von Symbolen gelungen sind, und drittens weil es eben Jahrhunderte gibt,
die den menschenfernen Augenblick der Gnade im menschenfernen Menschen nur
noch spÀrlich hervorbringen. (MoE 313)
Insofern scheint es nicht allzu vielversprechend zu sein, jene âgroĂen Gebilde
der Gnadeâ, âdie den LĂ€rm der Sinne verdrĂ€ngen und die Stirn in den Strö-
men der Jenseitigkeit netzenâ (MoE 313), durch die höchst ernsthafte Suche
677 Vgl. MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 21â26. Eine Auseinandersetzung mehr mit der
Person als mit dem Werk Klagesâ liegt Musils Gestaltung der Meingast-Figur zugrunde ; mehr
dazu unten im einschlÀgigen Abschnitt.
678 Der ErzĂ€hler erwĂ€hnt folgende Beispiele : âDen Isenheimer Altar, die Ă€gyptischen Pyramiden
und Novalis nannten sie so ; Beethoven und Stefan George lieĂen sie als Andeutungen geltenâ
(MoE 313).
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208