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563âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
nach konkreten ideengeschichtlichen Vorbildern zu erschlieĂen, wie das Götz
MĂŒller mit Blick auf Oswald Spenglers Begriff des âUrsymbolsâ versucht hat,
der mit dem von Hans Sepp vertretenen Symbolbegriff (vgl. MoE 206 u. 557,
bes. MoE 313) angeblich ĂŒbereinstimme.679 TatsĂ€chlich wirken die von MĂŒl-
ler angefĂŒhrten Ăbereinstimmungen relativ kontingent und berĂŒhren sich
mit zahlreichen ĂuĂerungen Ă€hnlicher Art, aber anderer Herkunft.680 Ziel-
fĂŒhrend ist hier wohl eine genaue Autopsie der unmittelbaren Musilâschen
Figurenrede, der zufolge das moderne Leben unklar und klein erscheint und
nur durch eine bestimmte Form der Darstellung aufgewertet werden kann.
Es ist demnach nicht das konkrete Leben selbst, das in Hans Sepps âsymboli-
schem Denkenâ als verĂ€nderbar gilt, sondern nur seine symbolische (Re-)PrĂ€-
sentation. Abgesehen von solchen offen wirklichkeitsfeindlichen und sichtlich
romantizistischen Ansichten verficht Hans die âLehreâ, dass nur âdie Arierâ
und diese ânur dann fĂ€hig seien, Symbole zu schaffen, wenn sie rein unter sich
sindâ (MoE 483). Hier klingt das schon im völkisch-studentischen Diskurs der
Wiener Jahrhundertwende topische Motiv der rassischen Reinheit an681, das
als regressive Projektion in eine vermeintlich goldene Urzeit mit allgemeinem
Antimodernismus einhergeht.682 Dementsprechend spricht sich Hans gene-
rell gegen den âFortschrittâ aus (MoE 483), plĂ€diert fĂŒr âHandarbeitâ anstelle
von âKraftmaschine[n]â (MoE 484) und meint ganz Ă€hnlich wie Ulrichs Ju-
gendfreund Walter : âMenschen unserer Zeit gelingt es ĂŒberhaupt nicht, etwas
GroĂes zu schaffen !â (MoE 483)
Aus Hans Sepps aggressiven Polemiken wider die moderne Zivilisation
sprechen ĂŒberdies ein organizistischer Essenzialismus, ein so historisch ob-
soletes wie affirmatives Ganzheitsdenken und eine offen antidemokratische
Gesinnung683, der jede Form von PluralitÀt ein GrÀuel bedeutet :
679 MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 22. Vgl. dagegen die genauen GegenĂŒberstel-
lungen von Spengler-Zitaten und Hans-Sepp-ĂuĂerungen bei Howald : Ăsthetizismus und
Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 328â330, Anm. 342 u. 343, die zeigen, dass âMusil Spenglers
âUntergang des Abendlandesâ eher als allgemeine Hintergrundfolie denn als konkretes Materi-
alreservoir oder gar dezidiertes Vorbild benutztâ hat.
680 Vgl. ebd., S. 325 f.
681 Vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 177 : âDie Studentenvereine reorganisierten
sich vom Ende der Siebzigerjahre an vielfach nach dem âArierprinzipâ. Vereinzelt wurde bereits
der Grundsatz aufgenommen, daĂ Juden keine Satisfaktion im Duell zu geben sei. Diese Vor-
gĂ€nge erzeugten in der Ăffentlichkeit Aufsehen.â
682 Vgl. Pollak : Wien 1900, S. 146â148 ; Hamann : Hitlers Wien, S. 287â293.
683 Die antidemokratische Gesinnung begegnet realhistorisch in Àhnlicher Weise schon bei Guido
von List, vgl. Hamann : Hitlers Wien, S. 296.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208