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566 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
veranschaulichte Funktion der DeutschtĂŒmelei und des Antisemitismus als
subversiver Einsatz im politischen und akademischen Generationenkonflikt ist
auch im Fall des von Musil nach realen zeitgenössischen Gruppenbildungen
modellierten âchristgermanischenâ690 Kreises um Hans Sepp zu beobachten,
der sich ja vom aufgeklÀrten Liberalismus der Elterngeneration abzusetzen
hatte.691 Gefördert wurde die AttraktivitÀt und die (scheinbare) Evidenz des
völkischen Diskurses aber ĂŒberdies durch den innerösterreichischen Nationa-
litÀtenkonflikt, in dessen Rahmen er sich als Einsatz gegen die kulturellen und
sprachlichen Emanzipationsbestrebungen der slawischen Völker verwenden
lieĂ. In ihm kamen nĂ€mlich gewaltige âZukunftsĂ€ngste zum Ausdruck, wel-
che vor allen Dingen von denjenigen kultiviert wurden, fĂŒr die die Sprache
ein ausschlieĂliches Arbeitsmittel warâ, also von Geistesarbeitern aller Art.
âDadurch, daĂ sie ihr ĂberlegenheitsgefĂŒhl, welches die Sprache ihnen ver-
liehen hatte, verloren, vermeinten sie ĂŒberhaupt alles zu verlieren.â692 In sei-
ner Analyse einer Passage aus Arthur Schnitzlers Autobiografie exemplifiziert
Pollak einerseits, âwie der Antisemitismus als Mittel der Subversion und des
Protests gegen intellektuelle und berufliche Beziehungen in den HĂ€nden derer
funktionierte, die, wenn auch zahlenmĂ€Ăig unterlegen, ihrem Ressentiment,
dem GefĂŒhl in ihren Aspirationen diskriminiert oder schikaniert zu werden,
Ausdruck verliehenâ693. Andererseits konnte die paranoide Geisteshaltung auf
paradoxe Weise von jedem politischen ZugestÀndnis an die nichtdeutschen
Angehörigen des multinationalen Staates profitieren, denn die innerhalb der
Wiener Gesellschaft zunehmend an Terrain gewinnenden Antisemiten griffen
der Deutsch-Nationalismus und der Wagnerkult auch als StĂŒtzen des Antisemitismus fungier-
tenâ, ja mehr noch : âdaĂ diese Erinnerungsfeier eine wirkliche Herausforderung fĂŒr die Exi-
stenz des multinationalen Staates darstellteâ. Zu den HintergrĂŒnden vgl. auch ebd., S. 100â102.
690 Dass sich selbst Musils scheinbar satirische Namensgebung der âChristgermanenâ eng an his-
torischen Vorbildern orientiert, belegt Arthur Schnitzlers autobiografischer Bericht ĂŒber die
Machenschaften der âchristlich-germanischen Parteiâ bei den studentischen Auseinanderset-
zungen an der Wiener UniversitÀt ; vgl. Schnitzler : Jugend in Wien, S. 154. Zum brachialen
âPrĂŒgelterrorâ der deutschnationalen Corpsstudenten, der zur Austragung weniger des Kon-
flikts zwischen den Generationen als vielmehr des internen Verteilungskampfes innerhalb der
nachwachsenden Generation diente, vgl. auch Zweig : Die Welt von Gestern, S. 83 f.
691 Vgl. dazu Musils Reflexionen ĂŒber den âGenerationenwechselâ im Arbeitsheft 8 : âMit 50 Jahren
ist eine Generation arriviert. Ihre Tochtergeneration ist dann zwischen 10 und 20. Die oppo-
sitionellen Söhne bilden eine Gegenphase, die weniger oppositionellen werden MitlÀufer der
neuen Bewegung.â (Tb 1, 404)
692 Pollak : Wien 1900, S. 103.
693 Ebd., S. 117.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208