Page - 578 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 578 -
Text of the Page - 578 -
578 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
lend ist zudem bereits zu diesem frĂŒhen Zeitpunkt Musils Betonung der âleib-
lichenâ bzw. körperlichen Dimension völkischer Gestimmtheit. Kein Zweifel
besteht hinsichtlich seiner kritischen Gesamtbewertung des PhÀnomens, die
ĂŒber die Jahre hinweg konstant bleibt. Noch gegen Ende seines Lebens hĂ€lt
er fest :
Der vollentwickelte Antisemitismus ist eine vollkommen paranoide Geistesverfassung.
Sieht in allem BestÀtigungen ; ist nicht zu widerlegen ⊠Man darf es nicht dahin
kommen lassen ! Die Wurzel[n] des Antisemitismus sind : Unkenntnis des Begriffs der
ObjektivitÀt. Glaube, daà alles Höhere falsch oder verdorben sei (Respektlosigkeit
des Unwissenden). Nichtbesitz der Kulturhemmung ⊠(GW 7, 837 ; korrigiert nach
M III/5/24)
Die im Roman mehr performativ als diskursiv vorgefĂŒhrte paranoide Dialek-
tik des Ressentiments wird hier expressis verbis benannt. Der populistische
Verdacht gegen âalles Höhereâ geht mit einer kompletten Ignoranz des Werts
wissenschaftlicher âObjektivitĂ€tâ einher, was umso gefĂ€hrlicher scheint, als
Europa doch âseinen Fortschritt der Objektivierungâ verdankt (Tb 1, 362), wie
Musil bereits 1920 in Auseinandersetzung mit Walter Strichs Essay Der Fluch
des objektiven Geistes727 in seinem Arbeitsheft 8 notiert. Dabei ist er sich der
problematischen Kehrseite des wissenschaftlichen Objektivismus durchaus
bewusst : âDie ObjektivitĂ€t lĂ€hmt die Verantwortung. Sie nimmt den Werten
die innere Wirkungskraft.â (Tb 1, 362) Diesen ânicht-ratioĂŻdenâ Aspekt des
menschlichen WeltverhÀltnisses728, den er genauso wie zahlreiche weitere
EinwÀnde gegen den wissenschaftlichen Objektivismus in den Reflexionen
seines damals noch Achilles genannten Romanprotagonisten zusammenfĂŒh-
ren wollte, gelte es aber âdoch mit dem objektiven Geist zu vereinenâ (Tb 1,
363), um nicht auf eine intersubjektive und reflexive Kontrolle des Voluntaris-
mus zu verzichten. Wie berechtigt Musils Warnung vor einer Aufgabe der ra-
tionalen ObjektivitÀtsvorstellung war, wurde spÀtestens 1933 deutlich : Gleich
nach der âMachtĂŒbernahmeâ meldeten sich braun gefĂ€rbte Philosophen zu
des Idealismusâ, deren sich der grassierende âRassengedankeâ bedient, allerdings mit folgenden
Worten : âEs ist bei uns ein sonderbares und Ă€uĂerst gefĂ€hrliches VerhĂ€ltnis entstanden : die
Respektlosigkeit vor dem Geist im Namen des deutschen Geistes. Weite [âŠ] Kreise unseres
Volks haben es verlernt, eine Leistung nach ihrem Gehalt zu empfinden, und prĂŒfen sie nur
nach ihrer Herkunft und darauf, wie sie ins System der Vorurteile paĂtâ (GW 8, 1065).
727 Vgl. Strich : Der Fluch des objektiven Geistes.
728 Vgl. die Fortsetzung der Musilâschen Strich-Exzerpte, wo von der â[i]m Irrationellen
wurzelnde[n] innere[n] Sicherheit des Lebensâ die Rede ist (Tb 1, 363).
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208