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579âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Wort â so Wilhelm Sauer mit seinem Aufsatz Schöpferisches Volkstum als natio-
nal- und weltpolitisches Prinzip. Zur KlÀrung der rechts- und sozialphilosophischen
Grundlagen der nationalsozialistischen Bewegung. Sie verwarfen kurzerhand âdie
wertfreie, deskriptive Wissenschaftâ und âDichtungâ (!), etwa âMax Weberâ
und dessen Konzept der âreine[n] voraussetzungslose[n] ObjektivitĂ€tâ, und
ersetzten sie durch die Berufung auf eine âder gotischen Seeleâ entsprechende
âWertgerichtetheitâ729 â was der ebenfalls um darstellerische ObjektivitĂ€t be-
mĂŒhte Musil befremdet in seinem Arbeitsheft 34 notiert (Tb 1, 853).
Mit seinem spĂ€teren Verweis auf die zivilisatorische Funktion der âKultur-
hemmungâ spielt Musil nicht nur auf jene kultur- und zivilisationstheoreti-
schen Ăberlegungen an, die sich in den dreiĂiger Jahren bei so prominenten
Autoren wie Sigmund Freud finden lassen730, sondern bezieht sich auch auf
Beobachtungen, die er selbst im MÀrz 1933 anlÀsslich der exzessiven Begleit-
erscheinungen von Hitlers âMachtĂŒbernahmeâ angestellt hatte. So heiĂt es im
Arbeitsheft 30 : âWenn die Affekte zensurlos sind, wie im Traum, so schaffen
sie radikale Bilder. Der Mensch, ĂŒber den man sich geĂ€rgert hat, hat zu ster-
ben u. Ă€. Nichts anderes geschieht heute politisch.â (Tb 1, 724) Oder noch
deutlicher : âHitler : ein Person gewordener Affekt, ein sprechender Affekt. Er-
regt den Willen ohne Ziel.â (Tb 1, 725)
Bezeichnenderweise bedurfte es aber gar nicht des historischen Siegs der
Nationalsozialisten zu solchen Einsichten. Bereits im Ersten Buch (1930) des
Musilâschen Romans unternimmt dessen ErzĂ€hler eine zwar knappe, aber
umso pointiertere sozialpsychologische Herleitung des Antisemitismus und
der Xenophobie : âNun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts ande-
res als Abneigung gegen sich selbst, tief aus der DĂ€mmerung eigener Wider-
sprĂŒche geholt und an ein geeignetes Opfer geheftet, ein seit den Urzeiten be-
729 Vgl. Sauer : Schöpferisches Volkstum als national- und weltpolitisches Prinzip, S. 25 f.: âDas
deutsche Weltbild ist, entsprechend der gotischen Seele, von strebendem und richtendem Charak-
ter (ânormativâ, âregulativâ im Sinne Kants). Alle Lebenserscheinungen sind auf Werte angelegt
und nach ihnen zu bemessen (âaxiologischâ, âtranspersonalâ, âkulturtheoretischâ im Sinne Fichtes
und Nietzsches).â
730 Freud : Das Unbehagen in der Kultur, S. 454 ff., spricht zwar nicht wörtlich von âKulturhem-
mungâ, aber â durchaus entsprechend â von âKulturversagungâ (S. 457) bzw. von einer Ver-
wandlung des Triebs âin eine zielgehemmte Regungâ (S. 461). Sublimierung durch Kultivierung
ist fĂŒr ihn zentral, denn : âDie Kultur muĂ alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Men-
schen Schranken zu setzen, ihre ĂuĂerungen durch psychische Reaktionsbildungen nieder-
zuhalten.â (S. 471) Mit anderen Worten : âDie Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir
zu sein, ob und in welchem MaĂe es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des
Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu
werden.â (S. 506)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208