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587âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Wendung bezeichnet genau das, was der Prophet Meingast tatsÀchlich im
Schilde fĂŒhrt : er, der selbststilisierte âErlöserâ, möchte mit seinem Geist ei-
nem anderen Geist â bzw. vielen anderen Geistern â etwas âantunâ. ZunĂ€chst
jedoch setzt er âseine Belehrungâ (MoE 833) ĂŒber Clarisses Denkweise mit
folgenden Worten fort :
â[E]s könnte ja leicht einer von uns auch sagen, daĂ ihm das wie Wahnideen vor-
komme, oder daà Clarisse ein nervenschwacher Mensch sei ; aber das hÀtte gar kei-
nen Zweck : die Welt ist zur Zeit so wahnfrei, daĂ sie bei nichts weiĂ, ob sie es lie-
ben oder hassen soll, und weil alles zweiwertig ist, darum sind auch alle Menschen
Neurastheniker und SchwĂ€chlinge. Mit einem Wort,â schloĂ der Prophet plötzlich âes
fÀllt dem Philosophen nicht leicht, auf die Erkenntnis zu verzichten, aber es ist wahr-
scheinlich die groĂe werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts, daĂ man es
tun muĂ. Mir, in Genf, ist es heute geistig wichtiger, daĂ es dort einen französischen
Boxlehrer gibt, als daĂ der Zergliederer Rousseau dort geschaffen hat !â (MoE 834)
Die inkriminierte âWahnfreiheitâ und Ambivalenz bzw. Indifferenz der moder-
nen Welt sieht Meingast als ihr Hauptproblem ; er polemisiert deshalb gegen
die darin beheimateten âNeurastheniker und SchwĂ€chlingeâ, verdammt die
europÀische AufklÀrung am Beispiel Rousseaus (was nicht sonderlich stichhal-
tig ist, weil dieser ja bereits selbst als Fortschritts- und Rationalismuskritiker
hervorgetreten ist, aber eben auch als Propagator der ânatĂŒrlichenâ GĂŒte des
Menschen) und holt aus zu einer regelrechten Suada gegen die politischen
und wissenschaftlichen Errungenschaften der Moderne :
Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehn ;
wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloĂ der politische Ausdruck fĂŒr den
seelischen Zustand des âMan kann so, aber auch andersâ. Wir sind das Zeitalter des
Stimmzettels. Wir bestimmen ja schon jedes Jahr unser sexuelles Ideal, die Schön-
heitskönigin, mit dem Stimmzettel, und daà wir die positive Wissenschaft zu unserem
geistigen Ideal gemacht haben, heiĂt nichts anderes als den Stimmzettel den soge-
nannten Tatsachen in die Hand zu drĂŒcken, damit sie an unser Statt wĂ€hlen. Das
Zeitalter ist unphilosophisch und feig ; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert
und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrĂŒckt, bedeutet : Tun,
was geschieht ! Nebenbei bemerkt, ist das ja einer der ehrlosesten ZirkelschlĂŒsse, die
es in der Geschichte unserer Rasse bisher gegeben hat. (MoE 832 f.)
âDemokratieâ und âpositive Wissenschaftâ werden hier als Belege fĂŒr die
Flach heit und Feigheit der Moderne angefĂŒhrt, die sich nicht âentscheidenâ
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208