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594 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Der völkische Diskurs, diese an Gebildete gerichtete Bildungsbotschaft, gedeiht zu-
nÀchst an den RÀndern der akademischen Institution, in mondÀnen Zirkeln und
kĂŒnstlerisch-intellektuellen Gruppierungen, bis er dann in den UniversitĂ€ten selbst
FuĂ faĂt, zunĂ€chst bei den Studenten und unteren LehrkrĂ€ften, schlieĂlich, am Ende
eines komplexen dialektischen Prozesses [âŠ], bei den Meistern selbst.762
Es ist deshalb historisch aufschlussreich, dass Musil seinen faschistoiden Pro-
pheten, der am Anfang dieser Entwicklung steht, als Vertreter auĂeruniversi-
tĂ€rer Philosophie zeichnet â und zugleich mit Hans Sepp einen paradigmati-
schen Studenten, bei dem die nicht nur von Meingast vertretenen Ideologeme
auf fruchtbaren Boden fallen.
Wie sein ErzĂ€hler ĂŒberdies unterschwellig anklingen lĂ€sst, sind die intel-
lektuellen ErgĂŒsse Meingasts auch nicht ganz frei von jener Leichtfertigkeit,
die einst seinen Erfolg beim anderen Geschlecht garantiert hatten, ist sein ek-
latanter Voluntarismus doch bloĂ in einem neuen Gebiet am Werk. Auch die
BeweggrĂŒnde seiner denkerischen TĂ€tigkeit scheinen mindestens so stark auf
die angestrebte Wirkung bei einem nichtspezialisierten Publikum ausgerichtet
wie auf die reflektierte Sache selbst. Wohl nur durch sein forciert antiakade-
misches Gebaren konnte der prophetische Denker tatsĂ€chlich âein berĂŒhm-
ter Mannâ werden (MoE 438), der âbestĂ€ndig eine Schar von SchĂŒlern und
SchĂŒlerinnen um sich versammeltâ hĂ€lt und zwischenzeitlich sogar aus seiner
Wahlheimat fliehen muss, um âeine Weile ungestört von seinen AnhĂ€ngern
arbeiten zu könnenâ (MoE 439). TatsĂ€chlich hat diese Flucht allerdings noch
einen anderen Hintergrund, den zuerst Clarisse arglos berĂŒhrt763 und den in
der Folge Musils ErzĂ€hler genĂŒsslich ausbreitet. Meingast, der â wohl auch
mit Seitenblick auf die damals umstrittene Psychoanalyse â öffentlich beklagt,
dass âdem Sexuellen viel zu groĂe Bedeutungâ beigemessen werde, wo es sich
doch âin Wahrheitâ bloĂ um âBockspiele des Zeitwollensâ handle (MoE 792 ;
vgl. MoE 833), pflegt âgeheimen Umgangâ mit Knaben und jungen MĂ€nnern
und ist sich der Bedeutung dieser neuen Vorliebe selbst noch nicht ganz be-
wusst :
[E]r hatte erst vor kurzem begonnen, in Einklang mit seiner MĂ€nner-Philosophie
einen Wandel in seinen Empfindungen wahrzunehmen und junge MĂ€nner an sich zu
762 Ebd., S. 22.
763 Vgl. Clarisses pikante Beobachtung, die Meingast âfassungslosâ macht : âEs kommen und gehn
bei dir geheimnisvolle Leute ! Du lĂ€dst sie ein, wenn du glaubst, daĂ wir auĂer Haus sind. Es
sind Knaben und junge MĂ€nner ! Du sagst nicht, was sie wollen !â (MoE 921 f.)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208