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598 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
werdende Warnungen wirkungslos verhallen. Entsprechend berichtet der Er-
zÀhler im Modus der erlebten Rede aus der Perspektive des Mannes ohne
Eigenschaften : âSie hielten offenbar alle nichts von ihm, weil sie nicht verstan-
den, wie verwahrlost dieses Gebiet des Glaubens ist, das sich zwischen der
Sicherheit des Wissens und dem Dunst des Ahnens breit macht !â (MoE 784)
Eine gewisse resignative Tendenz ist in diesen Worten nicht zu ĂŒberhören,
und angesichts der realen historischen Entwicklungen zur Zeit ihrer Nieder-
schrift hatte Musils Protagonist genauso wie der ErzÀhler und sein Autor wohl
allen Grund zur Bitterkeit.
Bei der erzÀhlerischen Ideologiekritik aus dem Munde Ulrichs blieb bisher
noch ungeklĂ€rt, weshalb er sich dermaĂen leidenschaftlich auf das vage Ge-
biet der âAhnungâ und des Nichtwissens kapriziert, dass er sogar eine eigene
âMethodenlehre dessenâ einfordert, âwas man nicht weiĂâ. Als Hintergrund
dieses auffallenden Engagements des ansonsten distanzierten Beobachters ist
die gemeinsame, zeittypische Sehnsucht fast aller Romanfiguren nach einem
Leben im âanderen Zustandâ zu nennen, die Ulrich in mancher Hinsicht â
aber eben nur in mancher ! â auch mit Meingast teilt.769 Dieser nĂ€mlich ist
â im scharfen Kontrast zu Ulrich â eindeutig ein Vertreter des âFĂŒrâ-Prinzips
(vgl. M II/1/25), er lebt âfĂŒrâ den âanderen Zustandâ, wĂ€hrend der gegen-
ĂŒber allen festen Ideologien skeptische, zugleich aber auch dem âMöglich-
keitssinnâ verpflichtete Mann ohne Eigenschaften allenfalls âinâ ihm zu leben
anstrebt, um es in der von Musil fĂŒr diesen Zusammenhang vorgesehenen
Diktion eines nachgelassenen Kapitelentwurfs zu formulieren, der den ein-
schlĂ€gigen Titel âWarum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind,
sondern es lieber sein wollenâ (MoE 1458â1462) trĂ€gt. Schon in den frĂŒhen
Entwurfsnotizen zum Meingast-Komplex hat Musil die damit begrĂŒndete in-
tellektuelle bzw. habituelle Idiosynkrasie seines Protagonisten betont : âAn-
ders vertritt gegen Klages nur deshalb das Wissenschaftliche, weil er seine
ideologische Bestimmtheit nicht vertrĂ€gt.â (MoE 1773, nach M VII/6/228 ;
vgl. M VII/6/280) Stein des AnstoĂes ist ihm eine unsaubere, weil ungenĂŒ-
gend reflektierte Vermengung von Kunst und Wissenschaft, die die gÀngigen
769 In diesem Zusammenhang ist der biografi
sche Umstand bezeichnend, dass Musil Klagesâ BĂŒch-
lein Vom kosmogonischen Eros (1922) durchaus mit Interesse und Zustimmung studiert und zur
Konzeption seiner erzĂ€hlerischen Reflexionen ĂŒber den âanderen Zustandâ ausfĂŒhrlichst ex-
zerpiert und verwertet hat (vgl. Tb 1, 615â623) ; dazu Heydebrand : Die Reflexionen Ulrichs,
S. 130â143 ; PreuĂer : Die Masken des Ludwig Klages, S. 227â253, bes. S. 240 ff. Blasberg : Krise
und Utopie der Intellektuellen, S. 184, meint deshalb, Musil ziele in der Gestaltung der Mein-
gast-Figur auf die âDarstellung des Auseinanderfallens von Werk und intellektueller Rolleâ,
wofĂŒr es im Romantext meines Erachtens aber keine Anzeichen gibt.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208