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603âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Es wird nicht ĂŒberraschen, dass Ulrich den Auftrag nur recht halbherzig aus-
fĂŒhrt und stattdessen die Gelegenheit beim Schopf ergreift, mit dem Vertreter
einer im kanonischen Romantext auffallend unterreprÀsentierten, dennoch
historisch gewichtigen ideologischen Position des politischen und des Macht-
Felds in Gedankenaustausch zu treten. SchmeiĂer selbst â nach Corinos Dik-
tum âeine Art Volksfront im Kleinenâ787 â geht wider Erwarten auch gar nicht
âauf die Anzettelungâ ein, von der sich Ulrich erhofft hat, dass sich daraus
âdann mit Gottes Hilfe etwas seltsam weiter entwickeln mochteâ, denn âdie-
ser junge Mann war kein bĂŒrgerlicher Romantiker und Abenteurer, sondern
hörte mit kniffligen Lippen zu, bis Ulrich nichts mehr zu sagen wuĂte.â (MoE
1454 f.) Der sozial deklassierte, aber ideologisch umso geschultere Student
stellt den wortgewaltigen âBourgeoisâ Ulrich, wie es ironisch heiĂt (MoE
1455), offenbar vor eine bisher ungekannte argumentative Herausforderung.
Wie kommt das ?
SchmeiĂer ist âungefĂ€hr sechsundzwanzig Jahre altâ und Sohn eines
âGĂ€rtner[s], der schon auf dem GrundstĂŒck gewohnt hatte, als Ulrich die-
ses ĂŒbernahm, und der seither als Entgelt fĂŒr freies Quartier und gelegentli-
che Zuwendungen den kleinen alten Park teils mit eigener Hand in Ordnung
hielt, teils in der Weise, daĂ er die notwendig werdenden Arbeiten angab und
ĂŒberwachteâ (MoE 1454). Der âjunge Mannâ, sechs Jahre jĂŒnger als Ulrich,
stammt also aus vergleichsweise bescheidenen und bildungsfernen VerhÀlt-
nissen, lebt wohl nicht zuletzt deshalb noch immer âbei seinem Vaterâ und
verdient sich sein damals nicht unerhebliches âStudiengeld durch Stunden-
geben und kleine literarische Leistungenâ (MoE 1454). Er bringt also ganz
andere soziale Erfahrungen, eine andere Kapitalmischung und einen ganz
anders gearteten Habitus in die Auseinandersetzung ein als sein GegenĂŒber.
Der Zwang, im Unterschied zu Ulrich fĂŒr seinen Unterhalt zumindest partiell
selber aufkommen zu mĂŒssen, hat unter anderem zur Folge, dass er â wie
ehemals sein Autor ein âKandidat der Technischen Wissenschaftenâ â fĂŒr da-
malige VerhÀltnisse bereits relativ lang studiert hat, ohne eine Ausbildung oder
einen dem fortgeschrittenen Alter entsprechenden Hochschulabschluss (und
damit institutionalisiertes kulturelles Kapital) vorweisen zu können (vgl. MoE
1454). Er zÀhlt also zum akademischen Proletariat und sieht den promovier-
ten Rentier dementsprechend âals einen reichen MĂŒĂiggĂ€ngerâ an, âdem man
GeringschĂ€tzung zu erweisen habeâ (MoE 1454). Angesichts des ruhig oder
manchmal auch âlachendâ (MoE 1455) argumentierenden und stets âhöfli-
chen Geistesâ sprechenden Ulrich âkonnte SchmeiĂer nie an sich halten und
787 Ebd., S. 896.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208