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604 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
zerbarst jedesmal von neuemâ (MoE 1456) vor purer Aggression. In dieser
harschen Reaktion auf Ulrichs ĂŒberlegene âFormâ, âGĂŒteâ und âLiebenswĂŒr-
digkeitâ (MoE 1456) offenbart sich jene von Bourdieu diagnostizierte âDialek-
tik des Ressentiments, das beim anderen den Besitz dessen verdammt, was man
selbst begehrtâ : Der âHaĂ auf den anderen [âŠ] allein vermag vor SelbsthaĂ
zu schĂŒtzen, wenn das Verlangen sich auf zumal körperliche oder inkorporierte
Eigenschaften wie etwa Auftreten und Umgangsformen richtet, die man sich
nicht einfach zu eigen machen kann, ohne daĂ man zugleich in der Lage
wĂ€re, den entsprechenden Wunsch danach in sich abzutötenâ.788
Die kantige und eigentĂŒmlich unharmonische Ă€uĂere Erscheinung Schmei-
Ăers korrespondiert mit seiner prekĂ€ren sozialen Stellung : âEr hatte eine
schmale Brust zwischen Schultern, die breitknochig waren, und trug scharfe
BrillenglÀser. Diese sehr scharfen Brillen waren die Schönheit in dem Gesicht,
das eine fahle, fette, schlecht durchblutete Haut hatteâ (MoE 1455). Der kör-
perlich durch unvorteilhafte LebensumstÀnde gezeichnete, ja sich in einem
Kapitelentwurf aus den mittleren zwanziger Jahren (mit dem bezeichnen-
den Titel âFĂŒr und inâ) sogar selbst als âhĂ€Ălichâ wahrnehmende Proletarier
kann sich nur durch die SchÀrfe der sein Gesicht nobilitierenden AugenglÀser,
welche besondere IntellektualitÀt signalisieren, vom gemeinen Proleten un-
terscheiden.789 Musils ErzĂ€hler erwĂ€hnt die âscharfe Brilleâ im selben Kapitel-
entwurf denn auch gleich vier Mal und betreibt damit wiederum eine sozio-
logisch schlĂŒssige Motivierung des Aussehens und der Selbstwahrnehmung
seiner Figur, wobei Letztere freilich ironisch gebrochen erscheint :
[I]n harten NĂ€chten ĂŒber BĂŒchern und Pflichtarbeiten notwendig geworden, und
geschÀrft durch Armut, der nicht gleich bei den ersten Anzeichen ein Arzt zur Ver-
fĂŒgung gestanden hatte, war die scharfe Brille fĂŒr SchmeiĂers einfaches GefĂŒhl zu
einem Sinnbild der Selbstbefreiung geworden : wenn er sein finniges Gesicht mit der
gesattelten Nase und den proletarisch spitzen Wangen, von ihr ĂŒberglĂ€nzt, im Spiegel
erblickte, erschien es ihm als die vom Geist gekrönte Armut [âŠ]. (MoE 1455)
788 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 41. Dementsprechend vermutet auch Corino : Musil [2003],
S. 897, dass SchmeiĂers âpolitische Haltung offenbar auch Ausdruck von RancĂŒne gegen den
ebenso wohlgestalteten wie wohlhabenden Protagonisten istâ.
789 Vgl. die erwĂ€hnte Passage im Zusammenhang : âSein Körper war unterernĂ€hrt und ĂŒberan-
strengt, er war niemals gut bewegt worden ; zum erstenmal dĂ€mmerte SchmeiĂer etwas auf ; er
trat abends vor einen kleinen Spiegel, den er mit vieler MĂŒhe so aufstellte, daĂ er seine ganze
Figur sehen konnte, und betrachtete sich nackt. Er war hĂ€Ălich. Der Traum vom Sonnenbad,
vom HerausschlĂŒpfen aus der kapitalistischen Kleiderhierarchie in eine Welt der natĂŒrlichen
Schönheit, war erschĂŒttert.â (MoE 1634, nach M II/1/82)
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208