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610 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Ein Spiegel beruhigte SchmeiĂer, indem er ihm das Bild eines jungen Man-
nes zeigte, der eine scharfe Brille unter einer harten Stirn trug. Antwort gab
er keine. (MoE 1457)
WĂ€hrend Ulrich hier unentwegt skeptische Fragen aufwirft und damit die An-
gemessenheit sowie auch die innere logische Konsequenz geschichtsphiloso-
phischer Konstruktionen und âgroĂer ErzĂ€hlungenâ generell problematisiert,
ist SchmeiĂer als Prophet einer Erlösung der Menschheit im âSozialen Staatâ
nie um schnelle und selbstgewisse Antworten verlegen, die sich freilich meist
in bloĂen SchmĂ€hungen und prophetischen Behauptungen erschöpfen. Mit
Ulrichs Freude am Ambivalenten und Paradoxen kann er nichts anfangen, in
keiner Weise gereichen sie ihm zur ErschĂŒtterung seiner recht simplen Ge-
wissheiten, die er durch ihre so stete wie affirmative Repetition zu zemen-
tieren sucht.803 Man könnte die zitierte Passage wohl auch als metafiktionale
Reflexion ĂŒber die Differenz zwischen politisch-engagierter und essayistischer
Literaturauffassung lesen. Dabei wÀre allerdings zu bedenken, dass Ulrich
selbst die problematischen politischen Implikationen seiner skeptisch-relati-
vierenden Denkweise eingesteht und der Polemik SchmeiĂers solcherart indi-
rekt eine gewisse Berechtigung attestiert (vgl. MoE 1456 f.).804
Bezeichnend an der gesamten Episode ist jedenfalls der Umstand, dass Mu-
sil in SchmeiĂer keinen Vertreter der extremen oder gar der radikalen Linken
gezeichnet hat, vor allem aber keinen Exponenten des linken Terrors, den
es historisch ja durchaus gab â vor allem kurz nach Kriegsende805, aber auch
schon wÀhrend des Kriegs, wie Musil bestens bekannt war. So hatte der Sozi-
aldemokrat Friedrich Adler â der Sohn des langjĂ€hrigen ParteifĂŒhrers Victor
Adler â 1916 als Pazifist den kriegstreibenden österreichischen MinisterprĂ€-
sidenten Graf StĂŒrgkh erschossen und war deshalb 1917 zum Tode verurteilt
worden (er wurde 1918 amnestiert). AnlÀsslich des Prozesses gegen den At-
tentÀter notierte Musil am 20. Mai 1917 trotz eines gewissen Respekts vor der
âHoheitâ von Adlers Selbstrechtfertigung irritiert : âEigentĂŒmliches VerhĂ€ltnis,
das Mittel wÀhlen, das man nicht nur programmatisch perhorresziert, son-
dern vor dem man einen körperlichen Abscheu hat.â (Tb 1, 336) Dass Musil
deshalb aber ein âSympathisant pazifistischer Gewaltâ gewesen sei, wie Cay
803 Dazu Musils recht eindeutig wertende Analogie : âSolches Denken ist das gleiche wie bei den
Naturheilmenschen oder den Deutsch-Arier-Idealisten.â Zur Veranschaulichung fĂŒgt er hinzu :
âEtwa Tochter des Bankdirektorsâ, womit er Gerda meint, und erwĂ€gt : âSchmeiĂer könnte ihr
auf Empfehlung Andersâ Stunden geben und sie hat starken Eindruck von ihm.â (Tb 2, 1093)
804 Mehr dazu im Abschnitt zu Ulrich und SchmeiĂer im Kap. II.3.2.
805 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 287.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208