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611âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Hehner behauptet806, geht aus dem zitierten Eintrag (sowie aus seinem Kon-
text) keineswegs hervor, im Gegenteil. Wie dem auch sei â als BegrĂŒndung fĂŒr
Musils Entscheidung, keinen Vertreter der extremen oder gar der radikalen
Linken zu zeichnen, können mehrere Hypothesen formuliert werden : Zum
einen scheint fĂŒr ihn mit Blick auf die Habsburgermonarchie, die stĂ€rker von
NationalitÀtenkonflikten als von sozialrevolutionÀren Fraktionsbildungen und
KÀmpfen geprÀgt war807, rechter Extremismus und Radikalismus charakteris-
tischer gewesen zu sein als entsprechende linke Bewegungen. Zum anderen
ist es möglich, dass er Linksextremismus und Linksradikalismus als weniger
paradigmatisch und vielleicht auch als weniger gefĂ€hrlich fĂŒr die Vor- und
vor allem die militarisierte Zwischenkriegsgesellschaft einstufte â womit er
wohl ebenfalls nicht ganz unrecht gehabt hĂ€tte, zumal in Ăsterreich nach
dem Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927 und dem Scheitern des daraufhin von
der Sozialdemokratischen Partei ausgerufenen unbefristeten Verkehrsstreiks
endgĂŒltig der âMythos der Macht der Arbeiterklasse zerbrachâ808. Selbst der
paramilitÀrische Republikanische Schutzbund verfolgte ja bis Anfang der drei-
Ăiger Jahre eine meist defensive, deeskalierende Strategie gegenĂŒber dem viel
gewaltbereiteren politischen Gegner auf Seiten der faschistoiden Heimweh-
ren und spĂ€ter der nationalsozialistischen SA.809 Weniger ĂŒberzeugend wirkt
dagegen die Vermutung Corinos, dass sich in der Figurengestaltung Schmei-
Ăers jene âAbwendung vom Kommunismusâ und âHinwendung zur Sozial-
demokratieâ spiegle, welche ein mögliches biografisches Modell Musils, der
Physiker Fritz Zerner, vorgelebt hat.810 Wie Corino selbst darlegt, bestehen
zwischen dem historischen Zerner und der literarischen Figur â angefangen
bei den sozialen VerhĂ€ltnissen der Familie und beim beruflichen Erfolg811 â
806 Hehner : EntschlĂŒsselung einer kryptischen Tagebuchnotiz, S. 208â213, Zit. S. 208 ; dagegen
Corino : Musils pazifistische Gewaltsympathien nicht zu belegen. Hehners historische âEnt-
schlĂŒsselungâ â nicht aber seine Deutung â bestĂ€tigt mittlerweile Howald : Musil und der At-
tentÀter.
807 Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sogar die âcisleithanischeâ Sozialdemokratie
vom NationalitĂ€tenkampf zwischen âDeutschenâ und Tschechen nicht verschont blieb und âum
1910 in nationale Gruppen auseinanderfielâ, wie Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich,
S. 92, berichtet.
808 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 288 ; vgl. ebd., S. 291 : âFĂŒr die Sozialdemokratie
doppelt bitter war, daĂ sie Ende der 1920er Jahre ihren EinfluĂ auf Bundesheer und Polizei
lĂ€ngst eingebĂŒĂt hatte und nun dem staatlichen Machtmonopol und der Heimwehr gegen-
ĂŒberstand.â
809 Vgl. McLoughlin : Heimwehr und Schutzbund, S. 48, 50 u. 52.
810 So Corino : Musil [2003], S. 897.
811 Vgl. ebd., S. 896. Freilich hÀlt Musil 1919/20 im Arbeitsheft 9 analog zu den spÀteren Schmei-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208