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620 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
scheidend variiert, schĂŒtzt sich der objektivierende Autor vor dem Vorwurf zu
idiosynkratischer Darstellung eines konkurrierenden Vertreters des eigenen
Metiers.
Zum Alter des romanesken Schriftstellers gibt Musils ErzÀhler keine ge-
nauere Auskunft. Immerhin spricht er aber vom âjunge[n] Dichter Friedel
Feuermaulâ (MoE 997), den man sich deshalb â etwa dem zehnjĂ€hrigen Al-
tersabstand zwischen Werfel und Musil entsprechend â um einiges jĂŒnger als
Ulrich vorzustellen hat. Die untersetzte Erscheinung Werfels843 liefert auch
das Modell fĂŒr Feuermauls Ă€uĂere Gestalt, deren wenig erhebenden Eindruck
auf die Zeitgenossenschaft Musil vorsichtshalber eine der Eifersucht unver-
dĂ€chtige weibliche Romanfigur konstatieren lĂ€sst : ââTraurigâ flĂŒsterte Diotima.
âWie ein LĂ€mmchen, das vorzeitig die Fettsucht bekommen hat.ââ (MoE 1003)
Diese Art von Sarkasmus entspricht ansonsten gar nicht der Denkweise oder
den rhetorischen Usancen der âFrau Sektionschefâ und verweist deshalb umso
deutlicher auf die persönliche Betroffenheit des Autors, der seine unverhoh-
lene Abneigung gegenĂŒber dem Konkurrenten Werfel gleich auf mehrere Ro-
manfiguren verteilt, wie Ulrichs nicht minder sarkastische Antwort zeigt : âDie
Schönheit des Mannes ist nur ein sekundĂ€res Geschlechtsmerkmalâ, denn :
âPrimĂ€r erregend ist an ihm die Hoffnung auf seinen Erfolg. Feuermaul ist in
zehn Jahren eine internationale GröĂe ; dafĂŒr werden die Verbindungen der
Drangsal sorgen, und dann wird sie ihn heiraten. Wenn der Ruhm bei ihm
bleibt, wird es eine glĂŒckliche Ehe werden.â (MoE 1003)844 Die eminent zeit-
diagnostische Funktion der erst spÀt und eher kursorisch in den Roman einge-
fĂŒhrten Dichterfigur insbesondere im Blick auf den von Musil perhorreszier-
ten Literaturbetrieb und dessen Aufmerksamkeitsökonomie wird unten noch
Gegenstand eingehenderer Erörterungen sein.845
Zur sozialen bzw. familiÀren Herkunft sowie kulturellen PrÀgung Feuer-
mauls gibt es widersprĂŒchliche Angaben, wenn man den erzĂ€hlerischen Chro-
notopos an realen historisch-geografischen Gegebenheiten misst (was aber
methodisch nicht zwingend ist) : WÀhrend der ErzÀhler im kanonischen Ro-
843 Vgl. die Abbildung in Corino : Musil [1988], S. 395. Werfels Biograf Peter Stephan Jungk be-
schreibt ihn recht plastisch als âLaute[n], Dickliche[n], Schwitzende[n], [âŠ] immer in abgeris-
sener Kleidung, [âŠ] immer voll ĂŒberquellender ErzĂ€hl- und Rezitierlustâ (Jungk : Werfel, S. 57 ;
dort auch weitere Abbildungen). Hinweis bei Corino : Musil [2003], S. 1729, Anm. 175.
844 So einer zynischen, weil ohne jede EinschrÀnkung erfolgten direkten Ableitung des weiblichen
EheglĂŒcks aus dem beruflichen bzw. gesellschaftlichen Erfolg des Mannes kann die zwar selber
kaum emanzipierte, doch idealistisch gesinnte und sexualwissenschaftlich gelÀuterte Kusine
freilich keineswegs beipflichten (vgl. MoE 1003 f.).
845 Vgl. auch Kap. II.3.2.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208