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634 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
nationales âSchiedswesen zu einer beherrschenden Institution des Völkerle-
bensâ zu machen871, was vor dem Ersten Weltkrieg aber nur in bescheidenen
AnsĂ€tzen gelang.872 Sie erinnert darĂŒber hinaus erstaunlich genau an eine zivi-
lisationstheoretische Diagnose, die Jahre spÀter von Norbert Elias entwickelt
worden ist : âDie Zivilisation [âŠ] ist niemals beendet und immer gefĂ€hrdet.
Sie ist gefÀhrdet, denn die Sicherung zivilisierter Standards des Verhaltens und
Empfindens in einer Gesellschaft hÀngt an bestimmten Bedingungen. Zu ih-
nen gehört eine einigermaĂen stabile Selbstzucht der einzelnen Menschen.
Diese ihrerseits ist an spezifische Sozialstrukturen gebunden.â873 Schon in
Musils Roman wird Eliasâ spĂ€tere Einsicht veranschaulicht, wobei die darin
ebenfalls thematisierte geringe Akzeptanz der skeptisch-differenzierten âdy-
namischenâ Haltung Andersâ874 bzw. Ulrichs zugleich offenbart, wie wenig er-
folgstrÀchtig Skepsis und Differenziertheit bei einem Publikum sind, das nach
einfachen Lösungen verlangt. Genau daran aber krankte der naive âöffentli-
che Pazifismus der unmittelbaren Nachkriegsjahreâ, der auĂerdem âmit einer
MĂ€nnerwelt konfrontiertâ war, âdie an der Front ĂŒber Jahre hin die mĂŒhsam
anerzogene Hemmschwelle gegenĂŒber der Gewalt gesenkt hatteâ, ja schlech-
terdings âan die Brutalisierung durch den Krieg gewöhnt warâ und nicht zu-
letzt âdurch die stĂ€ndigen ErzĂ€hlungen der âHeldentatenâ das Konstrukt der
militĂ€rischen MĂ€nnlichkeit perpetuierteâ.875 Die Triftigkeit dieses Befunds
sollte noch mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg anhalten876, wie Musil
schmerzhaft erleben musste. In seinem Romankosmos wird daran schlieĂlich
871 Vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 252 f., 255, 260 u. 266.
872 Vgl. ebd., S. 253 f., zu den Ergebnissen der im Anschluss an das Manifest des Zaren Niko-
laus II. abgehaltenen Haager Konferenz 1899 : âDas Resultat [âŠ] war bescheiden : ein âfakulta-
tivesâ Schiedsgericht wurde geschaffen, genaues Studium der RĂŒstungsfrage den Regierungen
empfohlen. Das Schiedsgericht hatte in den nÀchsten Jahren wiederholt Gelegenheit, kleinere
StreitfÀlle zu entscheiden, und erwies sich als recht brauchbar. 1907 trat eine zweite Konferenz
im Haag zusammen. Sie beschloĂ Regeln zur Humanisierung des Landkrieges, des Seekrieges,
kam aber, was Friedenssicherung betrifft, nicht vorwĂ€rts.â
873 Elias : Studien ĂŒber die Deutschen, S. 225.
874 In den Erlöser-EntwĂŒrfen des Arbeitsheftes 36 (1921/22) heiĂt es hinsichtlich der politischen
Pazifismus-Frage zum sonstigen Vertreter des âMöglichkeitssinnsâ Anders : âEr besaĂ den Tatsa-
chensinn, der die Naturwissenschaft unserer Zeit groĂ gemacht hat, und liebte seinetwegen die
Hartgeldseele eines Kaufmanns eigentlich mehr als die des groĂen zeitgenössischen Lyrikers
Friedel Feuermaul. Er besaĂ auch den Sinn fĂŒr die ungehemmte, chirurgisch kalte Logik ma-
thematischen Denkens.â (MoE 1989, nach H 36/14)
875 Hanisch : MĂ€nnlichkeiten, S. 50.
876 Vgl. ebd., S. 51, zur Zwischenkriegszeit : âEs gab einen weit verbreiteten Hass auf den Krieg,
einen Hass auf die alte Herrschaft und die alte Armee, aber der Pazifismus drang nicht sehr tief ;
die militĂ€rische MĂ€nnlichkeit wurde kaum in Frage gestellt.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208