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641âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
fĂŒr Musil freilich keineswegs, dass es nicht eine besondere affektive Bindung
zwischen dem mÀnnlich codierten ErzÀhler und seinen weiblichen Figuren ge-
ben darf. Wie Howald gezeigt hat, kennt Musil prinzipiell
zwei Frauengestalten : einerseits die knabenhafte, schlanke, hermaphroditische Frau
(Clarisse, Gerda [und Agathe, N. C. W.]), anderseits [sic] die mĂŒtterlich fĂŒllige Schön-
heit (Leona, Bonadea, Diotima). Letztere drei sind Objekte des Vaters in doppeltem
Sinn : erstens einem vergehenden gesellschaftlichen Zeitabschnitt zugehörig, zwei-
tens inzestuös besetzt. Aus diesem Schema fÀllt Rachel heraus, da sie einer sozial
niedrigeren Klasse als Ulrich angehört und damit fĂŒr diesen kein Objekt der Wahl
darstellt.896
Die Suggestion, dass Rachel, deren âKörper unter dem schwarzen Kleidchenâ
so âentzĂŒckendâ aussieht âwie MeiĂner Porzellanâ (MoE 163), aufgrund ihrer
Herkunft und sozialen Lage nicht als Objekt des Ulrichâschen Begehrens in
Betracht kommt, ĂŒberzeugt freilich nur partiell : Zum einen teilt sie diese so-
ziale Eigenschaft mit Ulrichs Geliebter Leona, zum anderen hat Musil bereits
in einer seiner frĂŒhesten Notizen zum Spion-Projekt 1919/20 hinsichtlich des
âDiotimakreisesâ festgehalten, dass der damals noch unter dem Namen Achil-
les firmierende Romanheld Diotima âmit ihrem DienstmĂ€dchenâ brĂŒskieren
sollte (M VII/3/1). Diese Idee findet sich im kanonischen Romantext zwar
nicht realisiert, doch belegt sie zumindest die von Rachel auf den Romanhel-
den von Beginn an ausgeĂŒbte körperliche Anziehung. Hinsichtlich der sexu-
ellen AttraktivitĂ€t von Angehörigen âniedererâ sozialer Klassen auf den Autor
selbst notiert Musil schon 1920 zur weiblichen Figurenzeichnung bzw. zu de-
ren möglichst suggestiver narrativer Gestaltung in sein Arbeitsheft 8 : âBal-
zac liebt seine Frauen, deshalb wirken sie so verfĂŒhrerisch. Die kleine blonde
Hure aus der âŠgasse lieĂe sich so zeichnen. Mit dem goldenen Ringelhaar.
Kindlich.â (Tb 1, 353) Die möglicherweise auf eigene erotische Erfahrungen
mit einer Prostituierten zurĂŒckgreifende Notiz Musils legt nahe, dass er â Ă€hn-
lich wie Balzac und zahlreiche andere Autoren vor ihm â ohne RĂŒcksicht auf
soziale Schranken ein durchaus libidinöses VerhÀltnis zu seinen weiblichen
Romanfiguren unterhalten hat und in deren erzÀhlerischer Konstitution auch
darauf abhebt, den von ihnen ausgehenden geschlechtlichen Reiz darstelle-
risch zur Wirkung zu bringen.897
896 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 261. Vgl. auch Corino : Musil [2003],
S. 1084 f.
897 Zu Rachels Anziehung auf Ulrich vgl. schon MoE 95.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208