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650 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
sode â eine nicht nĂ€her identifizierte BrĂŒnner Jugendbekanntschaft mit dem
Vornamen Rosa, von der der junge Musil zu Beginn seines Arbeitshefts 4 im
Entwurf einer ErzĂ€hlung unter dem Titel VariĂ©tĂ© [sic] berichtet (Tb 1, 4â7) â
und die entstehungsgeschichtlichen Kontexte und HintergrĂŒnde sollen in den
folgenden Ăberlegungen indes keine Rolle spielen925, wohingegen Leonas mit
recht groben Strichen gezeichnete Habitusausbildung sowie Natur und Funk-
tion der in der KapitelĂŒberschrift angekĂŒndigten âperspektivischen Verschie-
bungâ genauer zu erörtern sein werden.926
Leona ist 24 Jahre alt927 und in ihrer Ă€uĂeren Erscheinung âgroĂ, schlank
und vollâ, aber âaufreizend leblosâ (MoE 21), worin sich schon eine gewisse
WidersprĂŒchlichkeit manifestiert, die ihr auch in anderer Hinsicht anhaftet.
Sie fesselt Ulrich zunĂ€chst âdurch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch ei-
nen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmĂ€Ăigen, schönen,
langen Gesichts und durch die gefĂŒhlvollen Lieder, die sie an Stelle von un-
zĂŒchtigen sangâ (MoE 21). Leona stammt aus Ă€rmlichen VerhĂ€ltnissen, doch
scheint ihr Vater âein ehrbarer kleiner BĂŒrger gewesen zu sein, der sie jedes-
mal schlug, wenn sie mit Verehrern gingâ (MoE 22), wie ironisch berichtet
wird ; das Schlagen des heranwachsenden MĂ€dchens gilt demnach gemeinhin
als Ausweis besonderer Ehrbarkeit. Habituell sticht Leona nicht allein durch
ihre âFaulheit und Arbeitsscheuâ (MoE 22) hervor, sondern auch durch eine
extreme Langsamkeit in allen Belangen, die nicht die Nahrungsaufnahme be-
treffen :
In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz wunderbar lange, bis er das Ge-
hirn erreichte, und es geschah, daĂ mitten am Tag ihre Augen ohne Grund zu zerge-
hen begannen, wÀhrend sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt der Zimmer-
decke gerichtet waren, als ob sie dort eine Fliege beobachteten. Ebenso konnte sie
manchmal mitten in voller Stille ĂŒber einen Scherz zu lachen beginnen, der ihr da
erst aufging, wÀhrend sie ihn einige Tage zuvor ruhig angehört hatte, ohne ihn zu
verstehen. (MoE 22)
Daneben ist sie von einer ganz besonderen, âunzeitgemĂ€Ăe[n] Eigenschaftâ
gekennzeichnet, durch die sie aus dem gesamten Romanpersonal hervor-
925 Vgl. dazu Corino : Musil [2003], S. 843â847.
926 Zur Figurenkonstitution Leonas vgl. auch Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 262â268 ;
Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 265â269.
927 Der ErzĂ€hler erwĂ€hnt beilĂ€ufig, dass Leona âneun Jahreâ vor Beginn der BasiserzĂ€hlung in
âihrem sechzehnten Jahrâ (MoE 23) gewesen ist.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208