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651âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
sticht und die der ErzĂ€hler recht indezent als ungeheure âGefrĂ€Ăigkeitâ be-
schreibt (vgl. M II/1/98). Doch nicht nur die ErzÀhlinstanz zeigt hier wenig
Empathie. Auch der âUmgang des Protagonisten mit der Sucht dieser Frau
hat etwas von der KĂ€lte des psychologischen Experiments, bei der er ge-
nau die Bedingungen kontrolliert, Sanktionen ausspricht und Stimuli fĂŒr die
Helfer setztâ, wie Corino zu Recht bemerkt hat.928 Leonas Esssucht â âein
Laster, dessen groĂe Ausbildung lĂ€ngst aus der Mode gekommen istâ â wird
konsequent sozialpsychologisch hergeleitet : âEs war seinem Entstehen nach
die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes Kind nach kostbaren Lecker-
bissen gelitten hatte ; nun besaĂ es die Kraft eines Ideals, das endlich seinen
KĂ€fig zerbrochen und die Herrschaft an sich gerissen hat.â (MoE 22) Be-
reits in Musils frĂŒhen Notizen zur âErzĂ€hlungstechnikâ aus der ersten HĂ€lfte
des Jahres 1921 findet sich die eminent soziale Motivierung dieses auĂerge-
wöhnlichen Hungers vorbereitet : âLeonas Fresssucht [âŠ] ist eine Eigenheit
der Gesellschaft, ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor, nur deplaziertâ (M
II/1/146 ; vgl. M I/3/9).
Eine mittelbare Folge ihres verspĂ€tet â bzw. verfrĂŒht929 â zur Herrschaft
gelangten Lasters ist Leonas bereits in jungen Jahren einsetzender Verkehr
mit MĂ€nnern : â[S]ie [âŠ] tat es aus keinem anderen Grund, als weil sie fĂŒr ihr
Leben gern in dem Vorgarten einer kleinen Konditorei saĂ und vornehm auf
die VorĂŒbergehenden blickend in ihrem Eis löffelte.â (MoE 22) Durch diese
eigenwillige Leidenschaft, die sie aufgrund ihrer bescheidenen Herkunft und
sozialen Situation und angesichts der fĂŒr Frauen Ă€uĂerst beschrĂ€nkten berufli-
chen Möglichkeiten nur durch den Umgang mit dem anderen Geschlecht be-
friedigen kann, gerÀt sie in ein spezifisches gesellschaftliches Umfeld : Leona
tritt bald âin den untersten Singhöllenâ (MoE 23) auf, verdient ihren Lebens-
unterhalt im Varieté und durch Prostitution, wobei sie offenbar bestrebt ist, die
genaueren UmstĂ€nde dieser Berufswahl â sofern sie sich als solche bezeichnen
lĂ€sst â zu verschleiern : âAuf welche Weise sie ĂŒberhaupt zu ihrem Beruf ge-
kommen war, war niemals aus ihr herauszubringen. Anscheinend wuĂte sie es
selbst nicht mehr genau.â (MoE 23) Ein Element von Leonas VerdrĂ€ngungs-
strategie, die sie gegenĂŒber dem von Musil begrĂŒĂten neuen, selbstbewussten
und selbstbestimmten Frauentypus der Zwischenkriegszeit als âveraltete Frauâ
erscheinen lĂ€sst (vgl. GW 8, 1193), ist ihre vehemente Weigerung, die ĂŒbli-
che soziale Klassifizierung ihres Berufs anzuerkennen oder auch nur wahrzu-
928 Corino : Musil [2003], S. 845.
929 Passend wĂ€re es wohl wieder einige Jahre spĂ€ter in der Zeit der Inflation und des âNach
kriegs-
hunger[s]â (so Corino : Musil [2003], S. 847) gewesen.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208