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657âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Weise wird sie â die âunter betrunkenen MĂ€nnernâ singt (MoE 1903, nach M
II/2/15) â âdurch die Mobilisierung zeitgemĂ€Ăâ945.
In der Leona-Episode inszeniert Musil die wohl extremste Form gesell-
schaftlicher Distanz zwischen Ulrich und einer Vertreterin des weiblichen
Romanpersonals. Sie schlÀgt sich in der fehlenden Integrierbarkeit der ge-
meinsamen Erlebnisse in seine eigene soziale Existenz nieder â und damit
konsequent in einem GefĂŒhl der absoluten Bezugslosigkeit :
Ihrem Freund kamen solche Abende vor wie ein herausgerissenes Blatt, belebt von
allerhand EinfÀllen und Gedanken, aber mumifiziert, wie es alles aus dem Zusam-
menhang Gerissene wird, und voll von jener Tyrannis des nun ewig so Stehenblei-
benden, die den unheimlichen Reiz lebender Bilder ausmacht, als hÀtte das Leben
plötzlich ein Schlafmittel erhalten, und nun steht es da, steif, voll Verbindung in sich,
scharf begrenzt und doch ungeheuer sinnlos im Ganzen. (MoE 25)
Sichtbar wird in dieser grellen, ĂŒberdeutlichen Zeichnung, deren verfrem-
dende Wirkung eben dem Resultat einer âperspektivischen Verschiebungâ
gleicht, Ulrichs existenzielle Einsamkeit, die Erfahrung der Kontingenz und
Sinnlosigkeit seiner gesamten bisherigen Existenz. Gerade dadurch stellt sich
jedoch trotz aller sozialen Differenz wieder eine partielle Analogie zwischen
ihm und Leona ein, die zwar nicht inhaltlich, aber doch strukturell jener âla-
gespezifischen Homologieâ nahekommt, welche âdie Neigung des modernen
KĂŒnstlersâ zu erklĂ€ren vermag, âsein gesellschaftliches Schicksal dem der Pro-
stituierten gleichzusetzenâ.946 Ulrich ist zwar kein KĂŒnstler, doch seine Weige-
rung, die herrschende Wirklichkeit einfach hinzunehmen947, bzw. sein âMög-
lichkeitssinnâ, der ihn von anderen Romanfiguren auffallend unterscheidet,
weist ihn geradezu als Verkörperung des kĂŒnstlerisch-kreativen Prinzips der
imaginativen poiesis aus.948 Auch hinsichtlich der herrschenden Moral gibt es
945 Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 234.
946 So Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 95, Anm. 13, der die Homologie zwischen KĂŒnstlern
und Prostituierten allerdings mit Blick auf deren homologe Position in den jeweiligen MĂ€rkten
(Kunst- bzw. Geschlechteraustausch) bestimmt.
947 Bei Ulrich handelt es sich freilich um eine bewusste Weigerung, nicht um das Produkt einer
VerdrÀngung wie bei Leona.
948 Vgl. Kap. I.3.2 sowie den Abschnitt zu Ulrich in Kap. II.2.1. Die angefĂŒhrte Homologie ist frei-
lich nur partiell erklÀrungsmÀchtig : WÀhrend sich Literaten wie Baudelaire oder Altenberg in
der Tat âverkaufenâ mĂŒssen und sich deshalb selbst als kulturelles Luxusprodukt portrĂ€tieren,
das zum Verkauf steht wie jene Prostituierten, die sie selber hÀufig frequentieren (vgl. etwa Bau-
delaires verbotenes Gedicht Le vampire), fehlt bei Ulrich der Zwang, sich zu verkaufen â und
damit auch die einschlĂ€gige Thematik bzw. die unmittelbare Motivation fĂŒr eine âperspektivi-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208