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661âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
einem ironischen Namen ausgestattet, der im weiteren Romanverlauf vom
ErzĂ€hler ohne Umschweife einfach ĂŒbernommen wird, ohne dass man ihren
bĂŒrgerlichen Namen ĂŒberhaupt erfĂ€hrt :
Er hatte sie Bonadea getauft, die gute Göttin, weil sie so in sein Leben getreten war
und auch nach einer Göttin der Keuschheit, die im alten Rom einen Tempel besessen
hat, der durch eine seltsame Umkehrung zum Mittelpunkt aller Ausschweifungen ge-
worden ist. Sie wuĂte das nicht. Der klangvolle Name, den ihr Ulrich beigelegt hatte,
gefiel ihr, und sie trug ihn bei ihren Besuchen wie ein prÀchtig gesticktes Hauskleid.
(MoE 41 ; vgl. MoE 522)
Wie Walter, Arnheim, Clarisse oder Diotima strebt Bonadea ânach groĂen
Ideenâ (MoE 41) und hat einen gewaltigen âEhrgeizâ (MoE 522). Sie unter-
scheidet sich darin insofern vom jungen Ulrich, als dieser zwar auch versucht
hat, âein bedeutender Mann zu werdenâ (MoE 35), dieses Bestreben aber
nicht mit der Orientierung an vorhandenen Ideen verband. In auffallender
Differenz zu ihrem zeitweiligen Geliebten verfĂŒgt Bonadea ĂŒberhaupt nicht
ĂŒber âMöglichkeitssinnâ â und sei er auch nur auf die Kleidungsmode bezogen :
Wenn Bonadea sich in einem neuen Kleid im Spiegel betrachtete, so hÀtte sie sich
niemals vorzustellen vermocht, daà eine Zeit kommen könne, wo man etwa, statt
SchinkenÀrmeln, gekrÀuselten Stirnlöckchen und langen Glockenröcken, Knieröck-
chen und Knabenhaar tragen werde. Sie hÀtte die Möglichkeit auch nicht bestritten,
denn ihr Gehirn wÀre einfach nicht imstande gewesen, eine solche Vorstellung auf-
zunehmen. Sie hatte sich immer so gekleidet, wie man als vornehme Frau aussehen
muĂte, und empfand jedes Halbjahr vor der neuen Mode eine Ehrfurcht wie vor der
Ewigkeit. (MoE 524 f.)
Die aufgrund ihres steten Wandels sozusagen ontologisch kontingente, aber
doch mittelbar âin Beziehung zur SexualitĂ€tâ960 stehende Mode wird von Bo-
nadea nicht als Angebot und Medium spielerischer Selbstinszenierung wahr-
genommen, sondern als notwendiger âAusdruck bestimmten Charakters,
GrundsĂ€tze, Milieusâ, mithin als âein nach auĂen Kehren der sozialen Bedeu-
tungâ (GW 7, 806 f., nach M VI/1/177) und âgeistige Entlastungâ (MoE 527).
An ihrem Beispiel bestÀtigt sich die vom Berliner Soziologen Georg Simmel
in seiner Philosophie der Mode (1905) formulierte zeitgenössische Erkenntnis,
960 So Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 205, der sogar von einer âunmit-
telbarenâ Beziehung spricht, ohne dies aber transparent zu machen.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208