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665âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
verhĂ€ltnisse, die neurotische Seelenkonflikte zur Folge habenâ968. Der Psycho-
loge betont, dass unbewĂ€ltigte Konflikte dieser Art âbei nervös-empfindlichen
Menschen eine unerschöpfliche Quelle von dynamischen Verwirrungen der
seelischen Apparateâ bilden.969 Entsprechendes ist bei Bonadea zu beobach-
ten, was auf ihre habituell konstitutive âgenerative Formelâ schlieĂen lĂ€sst : Sie
hat stÀndig neue AffÀren, die mit einem psychischen Dilemma, einer Doub-
lebind-Situation einhergehen, in der sie an einen Menschen gekettet bleibt,
den sie verachtet, und sich zugleich an wechselnde andere Menschen bindet,
die sie verachten und ihr deshalb auch keinen dauerhaften Ausweg bieten.970
Bezeichnenderweise wird die zeittypische Diagnose der Nymphomanie, die
auch Ulrich in einem schwachen Augenblick zur Selbstrechtfertigung bemĂŒht
(vgl. MoE 820), vom ErzÀhler gleichsam gendertheoretisch perspektiviert,
indem er die angebliche âkörperliche Ăbererregbarkeitâ Bonadeas als âTĂ€u-
schungâ und âEinbildungâ qualifiziert. Doch erstreckt sich die erzĂ€hlerische
Kritik auch auf das Verhalten Ulrichs und anderer mĂ€nnlicher NutznieĂer die-
ser Konstellation :
MĂ€nner pflegen solche liebessĂŒchtige Frauen, sobald sie den Zusammenhang heraus
haben, meist nicht viel besser zu behandeln als Idioten, die man mit den dĂŒmmsten
Mitteln verleiten kann, immer wieder ĂŒber das gleiche zu stolpern. Denn die zarteren
GefĂŒhle der mĂ€nnlichen Hingabe sind ungefĂ€hr so wie das Knurren eines Jaguars ĂŒber
einem StĂŒck Fleisch, und eine Störung darin wird sehr ĂŒbelgenommen. (MoE 42)
Im weiteren Verlauf der Darstellung findet sich die sozialpsychologische Mo-
tivierung der angeblichen Nymphomanie durch eine psychopathologische
Diagnose ergÀnzt. Deren Befund bezeichnet eine im zeitgenössischen Kon-
text durchaus ĂŒbliche Folgeerscheinung der skizzierten Doublebind-Situation,
weshalb er in eine relativierende Analogie zu anderen verbreiteten Formen in
sich widersprĂŒchlicher Verhaltensweisen gebracht wird :
Das hatte zur Folge, daĂ Bonadea oft ein Doppelleben fĂŒhrte wie nur irgend ein acht-
barer TagesbĂŒrger, der in den dunklen ZwischenrĂ€umen seines BewuĂtseins Eisen-
968 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 119.
969 Ebd.
970 Vgl. auch Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 191 : âBonadeas extreme sinnliche Reizbarkeit ist
das Produkt ihres âDoppellebensâ. Sie gehört einerseits dem entsinnlichten âFriedenskreis ihrer
Familieâ und der gehobenen Gesellschaft an (dort ist sie Gattin, zĂ€rtliche Mutter und spielt die
Rolle einer âhochgebildeten und distinguierten Dameâ [âŠ]), andererseits aber hat sie fĂŒr ihre
davon abgespaltene Sinnlichkeit wechselnde Liebhaber.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208