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673âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Diese stÀndige Diskriminierung ist um so [sic] unerbittlicher, als sie nicht aus Bös-
willigkeit, sondern in der vollkommenen Unschuld der UnbewuĂtheit erfolgt : Man
schneidet ihnen das Wort ab, man wendet sich in gutem Glauben an einen Mann, um
eine kluge Frage zu beantworten, die sie gerade gestellt haben (so, als könne diese per
definitionem nicht von einer Frau stammen). Diese Art Existenzverleugnung zwingt
die Frauen hĂ€ufig dazu, auf die Waffen der SchwĂ€cheren zurĂŒckzugreifen, um sich zu
behaupten, was nur die Stereotypen bestÀtigt : Der Eklat kann nur als grundloser oder
hysterischer Ausbruch erscheinen, und die Koketterie ist, insofern sie auf einer Form
von Anerkennung der Herrschaft beruht, bestens dazu geeignet, das bestehende sym-
bolische HerrschaftsverhÀltnis zu stÀrken.987
Dies bestĂ€tigt sich in Musils Roman : Auf die âWaffen der SchwĂ€cherenâ grei-
fen hier sowohl die kokette Clarisse als auch die streitsĂŒchtige Klementine und
ihre hysterische Tochter Gerda zurĂŒck, um â jede auf ihre Weise â sich unter
den Bedingungen âmĂ€nnlicher Herrschaftâ zu behaupten. Die dabei jeweils
zum Vorschein kommende unterdrĂŒckte Aggression bringt die verborgene
âGewalt an den Tag, auf der letztlich die legitime Zirkulation der legitimen
Frauen beruhtâ988.
Wie Michael Pollak betont hat, war die âsozial konforme Wahl eines Gatten
oder einer Gattinâ in der Wiener Gesellschaft um 1900 âin jedem gesellschaft-
lichen Milieu beschrĂ€nktâ.989 Es existierten veritable Regeln fĂŒr eine âlegitimeâ
Partnerauswahl, die zwar nicht offen codifiziert waren, deren Bruch aber umso
konsequenter sanktioniert wurde :
Die im Wiener Heiratsmarkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschenden impli-
ziten Regeln ergaben sich aus den bĂŒrgerlichen AufstiegsbedĂŒrfnissen und der de-
fensiven Haltung einer Aristokratie, die ihren Status gegen die organisierte Titelin-
flation zu wahren bemĂŒht war. Mit dem Begriff âMĂ©sallianceâ bezeichnete man in
Wien jeglichen VerstoĂ gegen diese Regeln. Er fand Verwendung fĂŒr eine Vielzahl
von Allianzen zwischen unterschiedlichen Fraktionen des Adels und des BĂŒrgertums
wie auch fĂŒr jene Verbindungen zwischen diesen beiden Klassen.990
Ein besonders markantes Beispiel fĂŒr eine zeittypische Mesalliance zwischen
unterschiedlichen Fraktionen des BĂŒrgertums ist im Mann ohne Eigenschaften
987 Ebd., S. 105.
988 Ebd., S. 81.
989 Pollak : Wien 1900, S. 212.
990 Ebd.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208