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678 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
25 Jahre alt.1013 Sie hat eine âtaillenlos schlanke Figurâ und einen (eher fĂŒr die
âneue Frauâ der ErzĂ€hlzeit als fĂŒr die erzĂ€hlte Zeit charakteristischen) âknaben-
artig frisierte[n] Kopfâ, der ihr âlange[s] liebliche[s] Gesichtâ besonders schön
zur Geltung bringt ; die junge Frau mit androgyner Ausstrahlung kann âĂŒber-
aus verfĂŒhrerischâ wirken (MoE 654)1014, was fĂŒr die weitere Romanhandlung
noch von Bedeutung sein wird. Ihr Vater mit dem fĂŒr die Rembrandt-Mode
um 1900 bezeichnenden niederlĂ€ndischen Familiennamen van Helmond â ge-
nauso wie im Vornamen Clarisse (Alice) klingt hier das biografische Vorbild
Hugo Charlemont durch â ist ein bekannter Maler, dessen âbesondere FĂ€hig-
keitâ und Haupteinnahmequelle die âNeueinrichtung alter Schlösser bildeteâ
und der als aufstrebender junger KĂŒnstler âoft so etwas wie einen inneren Kö-
nigsmantelâ trug (MoE 291 f.). Mittlerweile aber fehlt es ihm an ökonomi-
schem Kapital, weil das âGeschĂ€ft [âŠ] nicht mehr so wie frĂŒherâ geht und er
ĂŒberdies âimmer mehr Geld ausgegeben als eingenommenâ hat (MoE 291 f.).
Er setzt seine Hoffnungen ironischerweise unter anderem auf Ulrich, der seine
âgroĂartigen aristokratischen Beziehungenâ doch âauch ein wenig fĂŒr ihn aus-
nĂŒtzenâ könne (MoE 291).
Als eher kleinbĂŒrgerlicher und verspĂ€teter Nachahmer von KĂŒnstlertypen
wie Hans Makart1015, nach dem man in nicht nur laudativer Absicht die Jahr-
zehnte des spÀten Wiener Historismus im Nachhinein benannt hat1016, prÀgt
van Helmond das soziale und kulturelle Umfeld, in dem Clarisse aufwÀchst,
ganz entscheidend : âSie hatte ihre Kindheit in einem Reich von Kulissen-
luft und Farbengeruch verbracht, zwischen drei verschiedenen Kunstjargons,
denen des Schauspiels, der Oper und des Malerateliers, umgeben von Samt,
Teppichen, Genie, Pantherfellen, Bibelots, Pfauenwedeln, Truhen und Lau-
ten.â (MoE 52) Die fĂŒr das Wiener Fin de SiĂšcle typische Szenerie ist kul-
turhistorisch insofern bezeichnend, als der (insbesondere von seinen Geg-
1013 Vgl. folgende Information des ErzĂ€hlers : âAls Clarisse vor drei Jahren seinen Jugendfreund
heiratete, war sie zweiundzwanzig Jahre alt gewesenâ (MoE 49).
1014 Der ErzĂ€hler erwĂ€hnt an anderer Stelle âdie flache Wölbung ihres schmalen Körpersâ, âaus
dem Stirn, Nase und Kinn wie ein Schneegrat hervorsprangen, dessen SchÀrfe Wind und
Sonne verwischen.â Die androgyne Clarisse entfaltet einen ganz eigenen âZauberâ (MoE 352).
Zu ihrem eigenwilligen âMischungsverhĂ€ltnis von mĂ€nnlichen und weiblichen Persönlich-
keitsanteilenâ vgl. Castex : Auf der Suche nach der verlorenen Frau, S. 60.
1015 Das biografi sche Vorbild Hugo Charlemont war tatsĂ€chlich ein âBewunderer und Nachah-
merâ Makarts, der in dessen Atelier gearbeitet hatte, ihn als Meister verehrte und von seiner
NĂ€he profitierte ; vgl. Frodl : Hans Makart, S. 360. Er lieĂ sich denn auch gern in einem prunk-
vollen âMakartgewandâ ablichten ; vgl. Corino : Musil [1988], S. 89 ; Corino : Musil [2003],
S. 293.
1016 Vgl. Frodl : Hans Makart, S. 359.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208