Page - 690 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 690 -
Text of the Page - 690 -
690 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
grafisch gekennzeichneten Zitats steht insofern auch in Korrelation zur pa-
thologischen Ausformung assoziativen Denkens. Hinsichtlich der individuell
recht unterschiedlichen Dispositionen dazu betont Kretschmer,
daà es gewisse nervös-psychopathische Menschen gibt, die meist dem schizophrenen
Formkreis nahestehen, bei denen schon in leichter Entspannung ohne tiefere Schlaf-
symptome die Gedanken sich phantastisch dissoziieren und nicht mehr nur in geord-
nete Bildstreifen, sondern z. T. gleich in katathyme Agglutinationen zerfallen. Solche
Menschen bezeichnet man als TagtrÀumer. Sind sie sehr begabt, so können solche Tag-
trĂ€umer sich in wertvollen kĂŒnstlerischen Phantasieprodukten auskristallisieren von
der Art, wie wir sie z. B. bei E. A. Poe, E. T. A. Hoffmann oder Mörike finden.1058
An diesen psychologischen Beschreibungen gemessen, könnte Clarisse mit
einiger Berechtigung als nervös-psychopathischer Charakter mit Tendenz zur
Schizophrenie bezeichnet werden. Sie ist allerdings im Unterschied zu den
genannten Schriftstellern kĂŒnstlerisch gerade nicht produktiv. Musil setzt das
von Kretschmer diskursiv Vermittelte vielmehr selbst kunstvoll in Szene ; seine
narrative Darstellung des fĂŒr Clarisse charakteristischen freiassoziativen Den-
kens bedient sich erzÀhltechnisch einer Mischung aus ErzÀhlerbericht, direk-
ten Zitaten und erlebter Rede :
Wie schlecht hatte sie frĂŒher Klavier gespielt, wie wenig von Musik verstanden ;
jetzt spielte sie besser als Walter. Und wieviel BĂŒcher hatte sie gelesen ! Woher wa-
ren sie alle gekommen ? Sie sah das vor sich wie schwarze Vögel, die in Scharen um
ein kleines MÀdchen flattern, das im Schnee steht. Aber etwas spÀter sah sie eine
schwarze Wand und weiĂe Flecken darin ; schwarz war alles, was sie nicht kannte,
und obgleich das WeiĂe zu kleinen und gröĂeren Inseln zusammenlief, blieb das
Schwarze unverÀndert unendlich. Von diesem Schwarz ging Angst und Aufregung
aus. âEs ist der Teufel ?â dachte sie. âIst der Teufel Moosbrugger geworden ? ?â dachte
sie. Zwischen den weiĂen Flecken bemerkte sie jetzt dĂŒnne graue Wege : so war sie in
ihrem Leben von einem zum anderen gekommen ; das waren Geschehnisse ; Abrei-
sen, AnkĂŒnfte, erregte Aussprachen, Kampf mit den Eltern, die Heirat, das Haus, un-
erhörtes Ringen mit Walter. Die dĂŒnnen grauen Wege schlĂ€ngelten sich. âSchlangen !â
dachte Clarisse âSchlingen !â Diese Geschehnisse umschlangen sie, hielten sie fest, lie-
Ăen sie nicht dorthin kommen, wohin sie wollte, waren schlĂŒpfrig und machten sie
unversehens an einen Punkt schieĂen, den sie nicht wĂŒnschte. (MoE 146)
1058 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 94.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208