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696 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ihren Habitus prĂ€gt : Klementine ist âin der pflichtbewuĂten, bestĂ€ndigen At-
mosphĂ€re eines Beamtenhauses aufgewachsenâ und hat âStandesbewuĂtseinâ
(MoE 205). Mehr noch : Sie stammt nicht nur âaus der hohen BĂŒrokratieâ,
was ihr erlaubt, ihre âFamilienbeziehungenâ zugunsten ihres Mannes als so-
ziales Kapital arbeiten zu lassen ; darĂŒber hinaus vergisst sie âdiesen Zusam-
menhang niemalsâ, âweder in ihren gesellschaftlichen Beziehungen noch in
ihren hĂ€uslichen Streitigkeiten mit Leoâ (MoE 136). Wenn man nun allerdings
die prekĂ€ren zeitgenössischen MaĂstĂ€be anlegt, dann ist die Tochter aus dem
âgehobenenâ â und aller Wahrscheinlichkeit nach katholischen â kakanischen
BĂŒrgertum bzw. sogar Adel1074 in sozialer Hinsicht eine veritable Mesalliance
eingegangen, indem sie den Sohn einer assimilierten jĂŒdischen Familie ehe-
lichte :
Sie hatte vor vierundzwanzig Jahren Leo aus zwei GrĂŒnden geheiratet ; erstens weil
hohe Beamtenfamilien manchmal mehr Kinder als Vermögen besitzen, zweitens aber
auch aus Romantik, weil ihr im Gegensatz zu der peinlich sparsamen Begrenztheit
ihres Elternhauses das Bankwesen als ein freigeistiger, zeitgemĂ€Ăer Beruf erschienen
war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen
Menschen nicht danach beurteilt, ob er Jude oder Katholik ist ; ja, wie es damals war,
empfand sie nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich ĂŒber das naive antisemi-
tische Vorurteil des gewöhnlichen Volks hinwegzusetzen. (MoE 203)
Die Heirat mit Leo Fischel hielt Klementine also in doppelter Hinsicht fĂŒr
aussichtsreich ; sie versprach sich davon einerseits, ihren sozialen Status zu-
mindest in ökonomischer Hinsicht zu halten oder gar zu verbessern, ande-
rerseits die eng begrenzte Welt des Berufsbeamtentums und der Verwaltung
durch die mental scheinbar weniger beschrĂ€nkte, weil wirtschaftlich groĂzĂŒgi-
gere und zukunftstrÀchtigere Welt des Kapitals zu ersetzen. Bei ihrer Hochzeit
scheint ihr die mit der gemischtkonfessionellen Ehe einhergehende GefÀhr-
dung ihres gesellschaftlichen Status in symbolischer Hinsicht nicht sonderlich
virulent gewesen zu sein, zumal der Niedergang des kakanischen Liberalismus
erst nach 1889 einsetzte1075 und davor die Missachtung des âgemeinenâ Anti-
1074 Dem Kapitel âLeo Fischel Spekulant IIâ aus den nachgelassenen Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen
der spĂ€ten zwanziger Jahre zufolge hat Klementine âeine adelige GroĂmutterâ (MoE 1605,
nach M II/1/111).
1075 Vgl. Schorske : Wien, S. 111â168. Wie auch Pollak : Wien 1900, S. 121, bemerkt, âwandelte sich
die christlich-soziale Bewegung nach dem Ende der 1880er Jahre zu einer Massenpartei, die
sich auf ein dichtes und dezentralisiertes Netz von Kontakten und Berufsvereinen sowie in
Wien auf die Ausstrahlung ihres charismatischen FĂŒhrers Carl [sic] Lueger stĂŒtzen konnte.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208