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701âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
die Bereitschaft einschreibt, just einen jener traditionellen MĂ€nnerberufe zu
ergreifen, der dann in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs mangels
vorhandener MĂ€nner tatsĂ€chlich erstmals massenweise von Frauen ausgeĂŒbt
wurde und lÀngerfristig einen gewaltigen Emanzipationsschub auslöste1086,
stattet er sie zumindest potenziell mit Charakteristika der âneuen Frauâ aus.
Aber die Zeit der BasiserzÀhlung ist noch nicht so weit vorangeschritten, und
Gerda, die âselbstĂ€ndig seinâ will (MoE 493), aber âden Reproduktionserfor-
dernissen und dem Verlangen nach sozialem Aufstieg unterworfenâ ist1087,
kann das in ihr angelegte Potenzial aufgrund der Struktur der sie umgebenden
Gesellschaft nicht entfalten. Konsequent wird deshalb die WidersprĂŒchlich-
keit und Ungleichzeitigkeit ihrer sozialen Position und ihrer ideologischen
Positionsnahme profiliert.
FĂŒr Ulrich reprĂ€sentiert Gerda generell âdas vielfĂ€ltig Zusammengesetzte
armer Menschen von heuteâ (MoE 315). Die Formel könnte im Fall der
Tochter aus gemischtkonfessioneller Ehe leicht als rassistisch missverstanden
werden, steht indes fĂŒr Ulrichs und Musils ânegativeâ Anthropologie gene-
rell, der zufolge alle Menschen in der Moderne âvielfĂ€ltig zusammengesetztâ
sind.1088 Ein besonders eindringliches und zugleich historisch paradigma-
tisches Beispiel fĂŒr diese kulturelle HeterogenitĂ€t, die sich in einem höchst
widersprĂŒchlichen Habitus niederschlĂ€gt, bildet Gerdas Begeisterung fĂŒr die
deutschnationale und antisemitische Ideologie der âChrist-Germanenâ, die
mit einem religiös verbrÀmten Antikapitalismus einhergeht. Das bereits oben
analysierte krude ideologische Gemisch1089 der mystischen Sekte ist fĂŒr sie
insbesondere als Medium der Abgrenzung gegenĂŒber dem zerstrittenen El-
ternhaus1090 attraktiv : So nennt sie ihren Vater Leo, der ihren Lebensunter-
halt ohne Widerwillen finanziert, aber hinsichtlich seines mittellosen ideolo-
1086 Den âverstĂ€rkte[n] Einsatz der Frauen in den Verkehrs- und Produktionsbetriebenâ der öster-
reichisch-ungarischen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs mit den damit einhergehenden
gesellschaftspolitischen UmbrĂŒchen bestĂ€tigt Sieder : Sozialgeschichte der Familie, S. 212 f.
Zum Anstieg der Frauenarbeit vgl. auch Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 206 :
âEine Million Frauen mehr wurden in Cisleithanien berufstĂ€tig. In Wien stieg der Frauenanteil
an allen BeschĂ€ftigten von 31 Prozent (1913) auf 53 Prozent (1918).â Mehr dazu in BruckmĂŒl-
ler : Sozialgeschichte Ăsterreichs, S. 356â358, sowie vor allem Frevert : Frauen-Geschichte,
S. 146â163.
1087 Pollak : Wien 1900, S. 213.
1088 Vgl. auch Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 235.
1089 Vgl. die Analysen zu Hans Sepp und zu Meingast in Kap. II.2.1.
1090 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 234 : âEs ist der Gegensatz zu ihren Eltern, den sie in die
AnhĂ€nglichkeit an Hans Sepp und seine Ideologie ĂŒbersetzt ; allein aus Familienopposition
wird sie Antisemitin.â
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208