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705âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Nach der kritischen Diagnose des ErzÀhlers, der die im grassierenden Natio-
nalismus und der kruden Rassenideologie zum Ausdruck kommende Hysterie
des frĂŒhen 20. Jahrhunderts offen anspricht, steckt genau hier der verborgene
Kern von Gerdas zerrissenem Charakter. In ihrer gespaltenen Person kehrt
das gemeinsam VerdrÀngte der Familie Fischel unerwartet wieder :
Der Widerspruch, der darin lag, daĂ ihre Eltern sonst von allem, was viele Leute
sagten, einen starken Eindruck empfingen, in diesem Fall aber eine sonderbare Aus-
nahme machten, hatte sich ihr frĂŒh eingeprĂ€gt ; und weil ihr ein bestimmter und
nĂŒchterner Sinn in dieser gespenstischen Frage abging, setzte sie mit ihr namentlich
in den Jahren der Halbreife alles in Verbindung, was ihr in ihrem Elternhaus unange-
nehm und unheimlich war. (MoE 312)
âNationalismus und Rassenideologieâ erscheinen in diesem Passus als eine
âgespenstische Frageâ der modernen Welt, was umso bemerkenswerter ist, als
der Mann ohne Eigenschaften Musils Selbstaussagen zufolge ja âdas Gespens-
tische des Geschehensâ darstellen soll und in Form des âgeistig Typischenâ
zu durchdringen und âbewĂ€ltigenâ beansprucht, wie er 1926 im GesprĂ€ch mit
Fontana formuliert hat (GW 7, 939 u. 942). Sein âintellektueller Romanâ fĂŒhrt
dementsprechend den Antisemitismus nicht nur in actu vor, sondern versucht
ĂŒberdies, dessen psychosoziale HintergrĂŒnde und Implikationen narrativ plas-
tisch zu machen. Indem Gerda in diesem fĂŒr ihre eigene Familie so zentralen
Bereich keinen âbestimmten und nĂŒchternen Sinnâ aufzubringen imstande ist,
erweist sie sich nur sehr eingeschrÀnkt als geeignet, die von Musil andernorts
begrĂŒĂte und durch Bestimmtheit sowie vor allem durch âNĂŒchternheitâ aus-
gezeichnete âneue Frauâ (vgl. GW 8, 1198) ĂŒberzeugend zu verkörpern.
Eine weitere Folge der spezifischen LebensumstÀnde Gerdas besteht in der
Allgegenwart eines sie umgebenden sinnlichen Moments : Gerdas stÀndiger
Begleiter ist ein fĂŒr die Jahrhundertwende typischer, durch das elterliche âHaus
schwebender Hauch von unschuldiger Wollustâ (MoE 479), der sich angesichts
fehlender Entfaltungsmöglichkeiten ihrer erotischen BedĂŒrfnisse allerdings im-
mer mehr in eine âaltjĂŒngferliche Ăberhauchtheitâ (MoE 563) verwandelt. Zwar
sind sÀmtliche ihrer wichtigeren MÀnnerbeziehungen auf die eine oder andere
Weise von âUnentschiedenheitâ gezeichnet, dennoch gerĂ€t Gerda ânicht nur zum
Kampfobjekt zwischen ihren Eltern sowie zwischen ihrem Vater und Hans Sepp,
sondern es entsteht eine neue, zusÀtzliche Konkurrenz zwischen Hans Sepp und
Ulrichâ1096, die insbesondere bei Letzterem eine bedenkliche, weil durch kein tat-
1096 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 321. Vgl. dazu auch die zumindest
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208